Schriftstellerin unter dem Geteilten Himmel (1961-1971)

Moskauer Novelle (1961)

Ich weiß, daß es dem Verkauf eines Buches günstig ist, wenn sein Autor es mit ruhigem Gewissen eine Liebesgeschichte nennen kann. Ich scheue mich, das zu tun. Zwar wird hier die Geschichte der Liebe zwischen der Deutschen Vera und dem Russen Pawel erzählt, die 1945 getrennt werden und fast fünfzehn Jahre später wieder in Moskau aufeinandertreffen. Es scheint, sie können jetzt nachholen, was sie damals, der Ungunst der Zeiten wegen, versäumen mußten. Aber das Leben ist weitergegangen; nicht nur die äußeren Umstände haben sich verändert – sie selbst sind nicht mehr die gleichen. Noch einmal steht vor ihnen die Frage, wie sie weiterleben wollen, und diesmal müssen sie sie auf neue Art beantworten.

Das war es, was mich an dieser Geschichte am meisten gereizt hat, die übrigens in ihrem äußeren Ablauf nicht so unwahrscheinlich ist, wie sie manchem vorkommen wird. Denn so intim die Liebe zwischen zwei Menschen sein mag und bleiben soll – auch sie wird sich auf die Dauer nicht dem Zwang entziehen können, den unsere Zeit allen unseren Gefühlen auferlegt: menschlicher zu werden.

Ich schrieb sie nach meinem zweiten Aufenthalt in Moskau; die Motive dazu hatten mich seit langem beschäftigt und waren durch neue Erlebnisse und Erfahrungen, vor allem durch den Wunsch, sich zu verdoppeln, hier und dort sein zu können, aktiviert worden. Ich versuchte, einen Teil der Nachkriegsproblematik unserer beiden Völker in der konfliktreichen Liebesgeschichte zwischen einer Deutschen und einem Russen, einem ehemaligen Frontoffizier, zu erfassen – zwei Menschen, die sich eineinhalb Jahrzehnte nach ihrer ersten Begegnung unter neuen Aspekten wiedertreffen und noch einmal entscheiden müssen, wie sie weiterleben wollen. (1965)

Quelle: Christa Wolf. Einiges über meine Arbeit als Schriftsteller. In: Die Dimension des Autors. Bd. I, Berlin: Aufbau 1986, S. 10

Der geteilte Himmel (1963)

Berlin-Schöneberg 

Dies ist kein politisches, vielmehr ein zutiefst menschliches Buch, eine bittersüße Ballade; aber nicht ferne Dichtung, sondern harte, bedrängende Wirklichkeit. Noch niemand ist es bisher gelungen, für die Spaltung Deutschlands ein so gültiges ergreifendes Gleichnis zu finden; sie spiegelt sich in dem Schicksal zweier Liebender. 

Die Lehrerin Rita hat den Glauben der Jugend, ihr Verlobter Manfred dagegen gehört zu jenen unbequemen Intellektuellen, die schließlich in den anderen Teil Deutschlands fliehen.
Rita sieht nach Frauenart weniger das Grundsätzliche als die Menschen, von denen einige Streber oder Hundertprozentige, andere Idealisten und wieder andere Mitläufer oder feindlich Alleinstehende sind. Sie ringt mit sich, ob sie ihrem Verlobten folgen solle, aber sie entscheidet sich gegen ihn und bleibt. Dennoch kann sie die Trennung nicht verwinden. Sie erleidet einen Zusammenbruch, der nach außen hin anzeigt, was ihr widerfahren ist. Nur langsam kehrt sie in das normale Leben zurück.

Das alles wird mit sparsamen Mitteln erzählt. Über den Realismus hinaus bemüht sich die wache Intelligenz der jungen Autorin um Anschluß an moderne literarische Stilformen. Was ihr an Routine noch fehlt, vergißt man über der unablässigen Suche nach der Wahrheit, die sich in einer klaren, echten Sprache kundtut.

Denken, Grübeln, Fiebern. Tage und Nächte hindurch! Was ist Liebe? Glück? Soll der Himmel denn immer geteilt sein? Rita Seidel, die im Krankenhaus liegt, grübelt. Zwei Jahre sind vergangen, seit sie dem Chemiker Manfred Herrfurth in die Stadt folgte, um an seiner Seite und mit ihm gemeinsam ein glückliches Leben zu beginnen. Während sie sich auf das Lehrerstudium vorbereitete, promovierte Manfred. Unter der Einwirkung neuer Lebenskreise gewinnt Rita Selbständigkeit. Manfred jedoch verliert sich in sein Glück und einen damit eigenartig konstrastierenden Skeptizismus. Schließlich verläßt er seinen Wirkungskreis, im festen Glauben, daß ihm Rita folgen wird. Sie tut es nicht. Diese Entscheidung wirft sie in eine tiefe Krise. Rita betrachtet jede Station ihrer Liebe, jeden Schritt auf dem Wege zum Glück im grellen Lichte ihrer niederschmetternden Erfahrung und doch bejaht sie mit der getroffenen Entscheidung nicht nur das Glück vergangener Stunden, sondern auch die schmerzliche Gewißheit einer Trennung für immer.

Quelle: Ankum von, Katharina: Die Rezeption von Christa Wolf in Ost und West. Von „Moskauer Novelle“ bis „Selbstversuch“. Amsterdam: Rodopi 1992, S. 63.

Die Konzeption der Geschichte hat sich im Laufe der Arbeit mehrmals erweitert und verändert. Mich hatten Beobachtungen in Brigaden sehr gefesselt, gleichzeitig Beobachtungen an jüngeren Leuten vom Typ des Manfred Herrfurth, dazu die große Problematik unseres geteilten Landes. Allmählich erst wurde aus all diesen Elementen eine Liebesgeschichte, die gleichzeitig die Geschichte einer Trennung ist. Der Leser muß urteilen, ob die Möglichkeiten ihrer Konzeption wirklich genutzt wurden; ob es mir gelang, etwas über unsere Zeit zu sagen, über unsere Art, das Leben zu sehen, über Menschen, die uns begegnen, die uns weiterbringen oder zurückwerfen.

Quelle: … mit der Jugend zu rechnen als mit einem Aktivposten. Gespräch mit Christa Wolf. In: forum. Zeitung der Studenten und der jungen Intelligenz. Berlin, Nr. 51-52,1962; s.: Christa Wolf.Ein Arbeitsbuch. Aufbau 1989, S. 7.

Ich las, weil ich es zu Korrekturzwecken leider mußte, in der letzten Woche nochmal den „Geteilten Himmel“, dabei kam mir an manchen Stellen das große Heulen über die unschuldsvolle Gläubigkeit, die mir damals, vor zehn Jahren, noch zur Verfügung stand.

Quelle: Christa Wolf an Brigitte Reimann. In: Drescher, A. (Hg.): Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen 1964-1973. Aufbau 1993, S. 114.

Man hat versucht, das Buch als ein „Frauenbuch“ abzustempeln. Sicher ist, daß ein sensibles Auf und Ab seelischer Schwingungen diese Seiten füllt. Und doch ist es kein sentimentales Zuckerwerk. Hinter allem stehen glasklare Erkenntnisse und stahlharte Notwendigkeiten, die eine Durchschnittsfrau selten zu gestalten vermag. Ein Frauenbuch? Nein! Ein Männerbuch? Nein! Ein Menschenbuch? Tausendmal ja!
Quelle: Rezension von Georg Herrmann, Deutsche Volkszeitung, Düsseldorf, vom 16.08.1963. In: Reso, Martin (Hrsg.): „Der geteilte Himmel“ und seine Kritiker. Dokumentation mit einem Nachwort des Herausgebers. Halle: Mitteldeutscher Verlag 1965, S. 75.

Nachdenken über Christa T. (1968)

Ein Mensch, unheilbar krank, stirbt: Christa T., Mitte der Dreißig, Mutter dreier Kinder, Neulehrerin einst und später Studentin der Germanistik, die Freundin.
„Christa T. hat gelebt.“ Aber nicht der Tod und tatsächliches Leben der Christa T., die sich allmählich zu erkennen gibt aus Erinnerung, Mutmaßung, Zitat und nachträglicher Erfahrung, sind eigentlicher Gegenstand der Erzählung, sondern die Auseinandersetzung mit diesen Gedanken, der Prozeß ihrer Bewältigung.

„Was ist das: dieses Zu-sich-selber-Kommen des Menschen?“ – Lebensstationen und individuelle Lebenserfahrung dieser unbeispielhaften Christa T. in unserer Zeit, in unserem Land, ihr „nicht enden wollender Weg zu sich selbst“, sind Anlaß zu gründlicher Besinnung und behutsamer, selbstklärender Ordnung. Der Reichtum, der jedem einzelnen zu erschließen möglich ist, und die Größe und Nützlichkeit, die ihm erreichbar sind, seine Beziehung zur Erfahrung unserer Gesellschaft – indem sie offenbar werden, wird der Leser unwiderruflich einbezogen in die Auseinandersetzung, öffnet sich ihm der Reichtum einer Autorenpersönlichkeit

„… da ist kein Stoff gewesen, der mich zum Abschildern reizte, da ist kein „Gebiet unseres Lebens“, das ich als Milieu nennen könnte, kein „Inhalt“, keine „Fabel“, die sich in wenigen Sätzen angeben ließen. Zu einem ganz subjektiven Antrieb muß ich mich bekennen: Ein Mensch, der mir nahe war, starb, zu früh. Ich wehre mich gegen diesen Tod. Ich suche nach einem Mittel, mich wirksam wehren zu können. Ich schreibe suchend. Es ergibt sich, daß ich dieses Suchen festhalten muß, so ehrlich wie möglich, so genau wie möglich …

… Als ich schon bei der Arbeit war, als das Material, die Fakten mir geläufig, wieder fremd geworden waren, sah ich allmählich, wenn nicht eine Idee, doch so etwas wie ein Motto. Ich fand es bei Becher formuliert und werde es meiner Arbeit voranstellen: „Denn diese tiefe Unruhe der menschlichen Seele ist nichts anderes als das Witterungsvermögen dafür und die Ahnung dessen, daß der Mensch noch nicht zu sich selber gekommen ist. Was ist das: dieses Zu-sich-selber-Kommen des Menschen?“
Es ist ein großer Gedanke, daß der Mensch nicht zur Ruhe kommt, ehe er zu sich selbst gefunden hat. Die tiefe Wurzel der Übereinstimmung zwischen echter Literatur und der sozialistischen Gesellschaft sehe ich eben darin: Beide haben das Ziel, dem Menschen zu seiner Selbstverwirklichung zu verhelfen…“
Christa Wolf, aus einem Selbstinterview

„Da gibt es keinen Zweifel: Dies ist eines der wichtigsten Bücher aus der DDR seit langem. Es stellt die Wahrheitsfrage – und ein Gesellschaftssystem auf die Probe. Wer die Berechtigung der Frage kennt, wird sich, zumal als Leser in der Bundesrepublik, hüten, dieses Buch mit dem Händereiben der Schadenfreude zu lesen.“ FAZ

Nachdenken über Christa T. begründete den Weltruhm Christa Wolfs und gehört zu den wichtigsten Werken der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Mit nur 36 Jahren stirbt Christa T. an Leukämie. Ihre ehemalige Schulkameradin und Studienfreundin erinnert sich an sie: an eine Frau, die der Forderung nach Anpassung ihre Phantasie, ihr Gewissen und vor allem ihre Sehnsucht nach Selbstverwirklichung entgegensetzt.

… da ist kein „Stoff“ gewesen, der mich zum Abschildern reizte … Zu einem ganz subjektiven Antrieb muß ich mich bekennen: Ein Mensch, der mir nahe war, starb, zu früh. Ich wehre mich gegen diesen Tod. Ich suche nach einem Mittel, mich wirksam wehren zu können. … Ich dringe in die frühere Welt dieser Toten ein, die ich zu kennen glaubte und die ich mir nur erhalten kann, wenn ich es unternehme, sie wirklich kennenzulernen. Ich stütze mich nicht nur auf trügerische Erinnerung, sondern auf Material: Tagebücher, Briefe, Skizzen der Christa T., die mir nach ihrem Tod zugänglich gemacht wurden. In dem Strom meiner Gedanken schwimmen wie Inselchen die konkreten Episoden – das ist die Struktur der Geschichte. (1966) (710)

Quelle: Selbstinterview. In: Die Dimension des Autors. Bd. I, Berlin: Aufbau 1986, S. 31.


Daß man – auch ich – es lernen mußte, gewisse früher verpönte Gefühle zuzulassen, zum Beispiel Trauer. Ich erinnere an die fünfziger und die frühen sechziger Jahre. Als Nachdenken über Christa T. erschien, gab es in der ernstzunehmenden Kritik (die neben der bestellten, politisch sich entrüstenden erschien) ein großes Erschrecken darüber, daß heutzutage jemand traurig sein und das auch noch zeigen konnte. Es war die Zeit des großen öffentlichen Optimismus. Mir war diese Trauer beim Schreiben zwar bewußt gewesen, weil ich sie ja eben schreibend verarbeitete, doch hatte ich mir nicht klargemacht, auf wieviel Widerstand sie stoßen mußte; …

Quelle: Unerledigte Widersprüche. Gespräch mit Therese Hörnigk. In: Christa Wolf: Reden im Herbst. Aufbau 1990, S. 27.


An diesem Buch schieden sich die Geister, aber sie sammelten sich eben auch an ihm: Die Literaturszene differenzierte sich neu, man wußte von jetzt an genauer, mit wem man rechnen konnte, mit wem nicht.
Quelle: Ein Brief. Christa Wolf an Angela Drescher, 21.8.1991. In: Drescher, Angela (Hg.): Dokumentation zu Christa Wolf „Nachdenken über Christa T.“ Luchterhand 1991, S. 190. 

Kindheitsmuster und essayistische Reflexionen (1972-1980)

Lesen und Schreiben (1972)

Eine Vielfalt von Anregungen, Kenntnissen, Erfahrungen – fruchtbaren Fragestellungen vermitteln diese „Aufsätze und Betrachtungen“ Christa Wolfs aus den Jahren 1964-1972. Ihre Fähigkeit zu gründlicher Analyse bestätigt sich hier auf der Ebene der Theorie, des Essays, des Porträts, des Werkstattberichtes, des direkten politischen Engagements. Welches „Deutsch“ spricht man in der BRD? Wie kann man den Gefahren der modernen Genetik begegnen? Was vermag Prosa heute? Immer mit dem Blick auf das Wesentliche, über den unmittelbaren Anlaß Hinausweisende stellt sich Christa Wolf konsequent und aufrichtig den sie bewegenden Fragen, und immer findet sie jenen Fixpunkt, der ihr selbst bei der Deutung der Anna Seghers am wichtigsten erschien: den „Glauben an Irdisches“, an „die denkende, mitfühlende, verstehende und handelnde Vernunft“. So verbinden sich genaue Analyse politischer Zustände, einfühlsame Interpretation fremder Werke und die Darlegung eigener Schaffens- und Lebensprobleme zu einem differenzierten Bild politischer und literarischer Verhältnisse der Gegenwart und ihrer möglichen Weiterungen in die Zukunft

„… zu erzählen, das heißt: wahrheitsgetreu zu erfinden auf Grund eigener Erfahrung.“ In dieser Sammlung von Aufsätzen (1966-70) berichtet die Erzählerin Christa Wolf von ihren Erfahrungen mit der Realität, dem Gegenstand von Literatur – im Bewußtsein, daß erst der zu schreiben beginnt, dem „die Realität nicht mehr selbstverständlich ist.“ Auf der Ebene der Theorie, des Essays, des direkten politischen Engagements beweist sie ihre Fähigkeit zur Analyse; sie stellt sich den sie bewegenden Fragen konsequent und ehrlich, im Glauben an die „denkende, mitfühlende, verstehende und handelnde Vernunft“, wenn sie von persönlicher Erfahrung zu Kriegsende, bei Anbruch der „neuen Wirklichkeit“ berichtet – Erinnerung, die weit über ihre Person hinausweist, von politischer Gegenwart, von der Konfrontation mit Problemen der modernen Naturwissenschaft, von ihrem „Lesen“ – die Porträts von Anna Seghers und Ingeborg Bachmann tragen, möglicherweise, zu einem Selbstporträt bei – und von ihren Erfahrungen mit dem „Schreiben“: „Die tiefe Wurzel der Übereinstimmung zwischen echter Literatur und der sozialistischen Gesellschaft sehe ich eben darin: Beide haben das Ziel, dem Menschen zu seiner Selbstverwirklichung zu verhelfen.“

Das Bedürfnis, auf eine neue Art zu schreiben, folgt, wenn auch mit Abstand, einer neuen Art, in der Welt zu sein. In Zeitabständen, die sich zu verkürzen scheinen, hört, sieht, riecht, schmeckt „man“ anders als noch vor kurzem. Ein Wechsel der Weltempfindung ist vor sich gegangen, der sogar die unantastbare Erinnerung antastet; …

Quelle: Christa Wolf: Lesen und Schreiben. In: Lesen und Schreiben. Aufsätze und Betrachtungen. Berlin 1973, S. 195.

Till Eulenspiegel. Erzählung für den Film (1973)

Till Eulenspiegel, seine Wahrheit und sein Lachen – Christa und Gerhard Wolf sehen diese unsterbliche Volksfigur auf eigene und doch so ganz vertraute Weise.

Till Eulenspiegel ist ein schlagfertiger, aufgeweckter Bauernjunge, der von seinem kleinen Anwesen vertrieben wird. Als Fahrender muß er nun, am Vorabend des Bauernkrieges, durch die bunte Welt des Mittelalters ziehen. Oft verdankt er seinem Witz das Leben. Selbst aus bitteren Erfahrungen gewinnt er listige und derbe, schockierende und kluge Späße. Beim Junker, beim großen Kaufmann und kleinen Zunftmeister hält Till Eulenspiegel sich auf; er lebt beim Kaiser und kennt den Bischof und ist zu Hause doch nur beim Volk. Till Eulenspiegel hat es gelernt, die „List der Schwachen“ in die „Kunst des Narren“ zu verwandeln. Er ist ein weiser Narr, der die Welt durchschaubarer macht, weil er sie menschlicher haben will.

Christa und Gerhard Wolf haben den Till Eulenspiegel-Stoff im Auftrag der DEFA für den Film bearbeitet. Aus dem Entwurf, der nicht realisiert wurde, entstand die vorliegende „Erzählung für den Film“. „Die Geschichte aus der Sicht der Unteren zu überprüfen, das Heilige als Funktion der Macht zu erweisen, das ist die Absicht und Wirkung dieses neu erzählten Till Eulenspiegel“, schreibt Wilfried E. Schoeller in der der „Frankfurter Rundschau“. „Er wurde von Christa und Gerhard Wolf um zwei Jahrhunderte ‚versetzt‘, ist in dieser Erzählung ein Zeitgenosse Luthers und Karls V. Till Eulenspiegel, ‚eine Wut in sich, die er nicht los wird‘, ist ein Dialektiker mit positivistischem Ehrgeiz: Macht und Besitz nicht verändernd, da ihm und den anderen seiner Klasse (noch) die Mittel dazu fehlen, aber die Wahrnehmung der Lage durch seinen erhellenden Witz auf andere übertragend. Christa und Gerhard Wolfs Erzählung entpuppt sich als ein Glücksfall an szenischer Anschaulichkeit, intelligenter Verfügung über den Stoff und das Metier. Diese Erzählung spiegelt sich gewissermaßen über die Form des Drehbuchs hinweg, verhält sich geradezu ironisch zu ihrem Zweck als Filmvorlage. Geplant scheint diese Prosa von vornherein und listigerweise als ein ‚gedachter‘ Film.“

Christa Wolf - Reflektion
Als Stoff [für ein Filmszenarium] habe ich das deutsche Volksbuch vom „Till Eulenspiegel“ gewählt, konzipiere die Figur aus dem vorhandenen Material neu und stelle sie in die historisch sehr interessante Epoche, die Zeit vor dem Großen Deutschen Bauernkrieg zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Damals hatte eine soziale Bewegung in Deutschland zum letzten Mal für Jahrhunderte Aussicht, das ganze vermoderte gesellschaftliche Gefüge zum Einsturz zu bringen. Die Niederlage dieser Bewegung hat unsere Geschichte für lange Zeit bestimmt, aber dieser Eulenspiegel soll an ihren hoffnungsvollen Anfängen mitwirken. (606 Z) Er ist eine plebejische Figur, ein Mann aus der Tiefe des Volkes, vielleicht darum von der bürgerlichen Literatur nicht so intensiv beachtet wie andere Gestalten aus Volksbüchern. (1970) (786 Z)

Quelle: Christa Wolf. Gegenwart und Zukunft. In: Die Dimension des Autors. Bd. I, Berlin: Aufbau 1986, S. 38f.

Als Stoff [für ein Filmszenarium] habe ich das deutsche Volksbuch vom „Till Eulenspiegel“ gewählt, konzipiere die Figur aus dem vorhandenen Material neu und stelle sie in die historisch sehr interessante Epoche, die Zeit vor dem Großen Deutschen Bauernkrieg zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Damals hatte eine soziale Bewegung in Deutschland zum letzten Mal für Jahrhunderte Aussicht, das ganze vermoderte gesellschaftliche Gefüge zum Einsturz zu bringen. Die Niederlage dieser Bewegung hat unsere Geschichte für lange Zeit bestimmt, aber dieser Eulenspiegel soll an ihren hoffnungsvollen Anfängen mitwirken. (606 Z) Er ist eine plebejische Figur, ein Mann aus der Tiefe des Volkes, vielleicht darum von der bürgerlichen Literatur nicht so intensiv beachtet wie andere Gestalten aus Volksbüchern. (1970) (786 Z)

Quelle: Gegenwart und Zukunft. In: Die Dimension des Autors. Bd. I, Berlin: Aufbau 1986, S. 38f.

Unter den Linden. Drei unwahrscheinliche Geschichten (1974)

Phantastisches ist einer Frau in ihrem Traum geschehen: Sie wurde auf geheimnisvolle Weise bestellt, traf einen alten Freund, bewunderte mit einem Goldenen Fisch blanke Schaufenster, begegnete einem Mann, der ungenannt bleibt, und immer wieder taucht – dunkles, nachdenkliches Motiv – ein Mädchen auf.
Absurdes berichtet ein Kater von seinem Professor, der alle Lebensumstände der Menschen zu katalogisieren versucht.
Irreal ist das Experiment einer Wissenschaftlerin, die sich für kurze Zeit in einen Mann verwandeln ließ, um am eigenen Leibe zu erfahren, was alles Frauen und Männer unterscheidet.
Unwahrscheinlich sind alle drei Geschichten. Und doch setzen sie sich mit Erscheinungen unserer realen Gegenwart auseinander. Immer geht es um die ganze Persönlichkeit, um das ständige, notwendige Suchen des Menschen nach Erkenntnis, auch Selbsterkenntnis, um Verantwortung und – vor allem – um Liebe.

Ein Traumspaziergang der Erzählerin „Unter den Linden“, der berühmten, auf der Ost-West-Achse gelegenen Prachtstraße Berlins zwischen der Neuen Wache und dem Brandenburger Tor. Einst und Jetzt durchdringen sich hier wie Gegenwart und Vergangenheit der Erzählerin im Traum.

Diese drei unwahrscheinlichen Geschichten [Unter den Linden; Neue Lebensansichten eines Katers; Selbstversuch] sind aus den Jahren 1969 bis 1972 … Nicht zufällig haben zwei von ihnen stark satirische Elemente, auch gewisse provozierende Thesen werden aufgestellt, und ich hoffe, die „Unwahrscheinlichkeit“ dieser Geschichten, ihre Verlegung in Traum, Utopie, Groteske kann einen Verfremdungseffekt in bezug auf Vorgänge, Zustände und Denkweisen erzeugen, an die wir uns schon zu sehr gewöhnt haben, als daß sie uns noch auffallen und stören würden. Sie sollten uns aber stören – wiederum in der Zuversicht gesagt, daß wir ändern können, was uns stört.

Quelle: Christa Wolf. Subjektive Authentizität. Gespräch mit Hans Kaufmann. In: Die Dimension des Autors. Bd. I, Berlin: Aufbau 1986, S. 345f.

Kindheitsmuster (1976)

Kein Mensch kann den Wirkungen entgehen oder sich von den Einflüssen trennen, die von seiner Kindheit und Jugend her in sein späteres Leben dringen – auch und gerade, wenn diese Kindheit unter Einflüssen stand und Verhaltensweisen in ihm erzeugt hat, die er am liebsten vergessen und leugnen möchte, zuerst vor sich selbst. Es ist ein großes Thema, den Reifeprozeß dieser meiner Generation zu verfolgen, auch die Gründe zu suchen, wenn er ins Stocken kam. Für diejenigen, die in der Zeit des Faschismus aufwuchsen, kann es kein Datum geben, von dem ab sie ihn als „bewältigt „erklären“ können. Die Literatur hat dem Vorgang nachzugehen, was heißen kann: ihm voranzugehen, ihn vielleicht mit auszulösen. Eine immer tiefere, dabei auch immer persönlichere Verarbeitung dieser im Sinn des Wortes ungeheuren Zeit-Erscheinung.

Übrigens fällt das sehr schwer, und gerade dieser Widerstand deutet darauf hin, wie radioaktiv dieser Stoff immer noch ist. Haben wir uns nicht vielleicht deshalb angewöhnt, den Faschismus als ein „Phänomen“ zu beschreiben, das
außerhalb von uns existiert hat und aus der Welt war, nachdem man seine Machtzentren und Organisationsformen zerschlagen hatte? Haben wir uns nicht eine Zeitlang Mühe gegeben, ihn als Vergangenheit an die „anderen“ zu delegieren, um uns selbst allein auf die Tradition der Antifaschisten und Widerstandskämpfer zu berufen? Dabei hören wir immer häufiger von jungen Menschen, sie verstünden „trotz allem“ nicht, wie Leute wie wir, ihre Eltern, in dieser Zeit leben und vielleicht nicht einmal vom Gefühl eines andauernden Unglücks niedergedrückt sein konnten, und: wie wir danach weiterleben konnten. „Trotz allem“ – das heißt: trotz aller Bücher, die sie darüber lesen, trotz aller Filme, die sie gesehen ahben, trotz aller Belehrung im Geschichtsunterricht über die Voraussetzungen für die Machtergreifung eines Hitler. Aber sie haben ein Recht, das zu verstehen, und wir haben die Pflicht, ihnen etwas darüber zu sagen – soweit wir können.
Quelle: Christa Wolf: Auskünfte. Werkstattgespräche mit DDR-Autoren. S.

Wie sind wir so geworden, wie wir sind? Die Frage nach den Verhaltensmustern, die sich in der Kindheit eingeprägt haben, nach ihrer Dauer und Veränderbarkeit, liegen diesem großen Buch von Christa Wolf zugrunde.
„Nachdenken, ihr nach-denken“, hatte der erste Satz ihres „Christa T.-Romans gelautet. Hier, in „Kindheitsmuster“, denkt die Erzählerin der eigenen Person nach, ihrer Kindheit in den dreißiger Jahren in der Stadt L. an der Warthe, dem heute polnischen G. Mit ihrem Mann, ihrem Bruder Lutz und ihrer Tochter Lenka reist sie an einem glutheißen Julitag an diesen Kindheitsort zurück. Sie sieht den Lebensmittelladen wieder, der einst ihren Eltern gehört hat, das Haus, in dem sie aufwuchs, Plätze und Straßen, über die sie damals gegangen ist. Die Erinnerung beginnt zu strömen, gibt Gesichter frei, Worte, Zusammenhänge; Vergessenes und Verdrängtes. Szenen aus deutschen Familien- und Schulzimmern zur Zeit des Faschismus – die Erzählerin rekonstruiert sie akribisch, unter dem Zwang, der eigenen Tochter „das schauerliche Geheimnis der Menschen dieses Jahrhunderts“ erklären zu müssen: „wie man zugleich anwesend und nicht dabei gewesen sein kann“.
Der Alltag des Faschismus, die Wonnen der Gewöhnlichkeit als Kehrseite dieser „ungeheueren Zeit-Erscheinung“ sind noch nirgendwo genauer beschrieben worden als hier. Nach-denkend, schreibend will die Erzählerin zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit vermitteln, „mit der Freiheit zu diesem großen und schweren Stoff, die erst der Zeitabstand eines Vierteljahrhunderts gibt“. Wie war es möglich, wie war es wirklich und was ist davon in uns geblieben?
„Kindheitsmuster“ wurde mit dem Bremer Literaturpreis 1977 ausgezeichnet.  Die „Neue Zürcher Zeitung“ schrieb beim Erscheinen des Buches: „Wir wüßten den deutschsprachigen Schriftsteller nicht zu nennen, den wir gleich ernst nähmen wie Christa Wolf.“

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Klappentext Suhrkamp 2007

Wie versetzt man sich in die eigene Kindheit zurück, wie stellt man die eigene Lebensgeschichte dar? In Kindheitsmuster entwickelt Christa Wolf eine neue Art des autobiographischen Schreibens. Sie erzählt von Nelly Jordan, die in den Jahren zwischen 1933 und 1947 heranwächst und Krieg und Flucht erlebt, aber auch von der erwachsenen Frau, die Jahrzehnte später an einem heißen Sommertag ihre nun polnische Heimatstadt besucht und sich an das Kind erinnert, das sie einmal war.

Ich habe zu diesem Manuskript länger als ein Jahr gebraucht, um überhaupt einen Anfang zu haben. … Und wenn man anfängt, dann schreibt man, zum Beispiel, linear. … Es war eine Linie, aber kein Raum. Und erst nach und nach … habe ich herausgefunden, daß ich zum Beispiel mit hineinnehmen mußte, wie das Manuskript entstand… Oder Überlegungen über das Gedächtnis: Wie erinnert man sich eigentlich, woran erinnert man sich, warum an manches ja, an manches nicht. Es wurde dann eine der Aufgaben, die ich mir stellte, das Erinnern mitzudiskutieren. Und so kam es nach und nach – drei, vier solcher „Ebenen“: auch die Fahrt nach Polen, …, weil es mir wichtig war, zu zeigen, wie es ist, wenn man heute in eine Stadt kommt, die jetzt polnisch ist, die aber die Heimatstadt ist. Das ist ein Erlebnis, das sehr viele Menschen bei uns haben und das noch kaum artikuliert wurde … Heimweh spielt eine Rolle. Dadurch erst, durch die verschiedenen Ebenen, die sich zusammentaten, merkte ich, es kann ein Gegenwartsbuch werden.

Das ist der Grund für die Struktur des Buches.

Quelle: Christa Wolf. Erfahrungsmuster. Diskussion zu „Kindheitsmuster“. In:Dimension des Autors. II. Berlin: Aufbau 1986, S. 353f. 1975 (1060 Z)

Kein Ort. Nirgends (1979)

Einmal bin ich nach Winkel am Rhein gefahren und habe auf dem Friedhof das Grab der Günderrode gesucht und gefunden: Ihr Name war mir in den Essays und Briefen von Anna Seghers aufgefallen. Sie nennt ihn mitunter den Namen anderer deutscher Dichter der gleichen Genration, die „ihre Stirnen an der gesellschaftlichen Mauer der Wirklichkeit wundrieben“ und die zur klassischen Vollkommenheit nicht gelangen konnten. Christa Wolf

U3
Auf dem Heimweg befiel Kleist in Mainz eine tödliche Krankheit, von welcher ihn Hofrat Wedekind erst nach sechs Monaten wiederherstellte, und blieb er inzwischen allen seinen Freunden entschwunden.
Er soll in dieser Zeit die Bekanntschaft der Günderrode gemacht und mit der Tochter eines Predigers bei Wiesbaden ein zartes Verhältnis gehabt haben … Eduard von Bülow

„Vorgänger, Blut im Schuh“ heißt es von den beiden Personen, die Christa Wolf in dieser Erzählung zu einer fiktiven Begegnung in Winkel am Rhein, im Haus der Brentanos, zusammenführt – nur wenige Jahre bevor beide freiwillig aus dem Leben gehen: Karoline von Günderrode, die unter dem Pseudonym Tian Gedichte, Prosa und dramatische Versuche veröffentlichte, setzte ihrem Leben 1806, sechsundzwanzigjährig, ein Ende; Heinrich von Kleist wählte, vierunddreißigjährig, 1811 den Freitod. Zwei jener deutschen Dichter, die – wie Anna Seghers sagte – „ihre Stirn an der gesellschaftlichen Mauer wundrieben“.

„Christa Wolfs Buch ist ein großes, meisterhaftes Stück Prosa. Die Monologe, die die Gespräche der Teegesellschaft, sie kommentierend, in sich aufnehmen; die wechselnde Perspektive von Kleist zur Günderrode, von Günderrode zu Kleist; das Münden der Selbstgespräche in den Dialog: eine kunstvolle und dabei gelöste Form hält ein vielschichtiges Gewebe zusammen, zu dem auch, in die Ferne transportiert, die Stimme der Dichterin selbst gehört. Der Kraft ihrer Prosa ist zur Zeit wohl weniges an die Seite zu stellen.“ Tages-Anzeiger, Zürich

 

Im Juni 1804 sind Karoline von Günderrode und Heinrich von Kleist zu einer Teegesellschaft in Winkel am Rhein eingeladen – eine fiktive Begegnung: Christa Wolf lässt die empfindsamen Dichter, beides Außenseiter, aufeinandertreffen, lässt sie nachdenken über fehlende Freiräume, über das nicht lebbare Leben und zeigt die Parallelen zu ihrer eigenen Gegenwart.

1979 erschienen, bringt das Buch uns zwei Menschen nahe, die an dem System, in dem sie stecken, zu verzweifeln drohen und die doch wissen: »Wenn wir zu hoffen aufhören, kommt, was wir befürchten, bestimmt.«

Längst ist der Titel dieses modernen Klassikers zum geflügelten Wort geworden: In Kein Ort. Nirgends erzählt Christa Wolf vom Lebensgefühl derjenigen, die mit dem Rücken zur Wand stehen, und entwirft gleichzeitig die Vision eines Daseins, in dem die Grenzen zwischen den Einzelnen, den Geschlechtern, zwischen Realität und Utopie überschritten sind.

„Kein Ort. Nirgends“ hab ich 1977 geschrieben. Das war in einer Zeit, da ich mich selbst veranlaßt sah, die Voraussetzungen von Scheitern zu untersuchen, den Zusammenhang von gesellschaftlicher Verzweiflung und Scheitern in der Literatur. Ich hab damals stark mit dem Gefühl gelebt, mit dem Rücken an der Wand zu stehn und keinen richtigen Schritt tun zu können. Ich mußte über eine gewisse Zeit hinwegkommen, in der es absolut keine Wirkungsmöglichkeiten mehr zu geben schien. …

Daraus ist bei mir … die Beschäftigung mit dem Material solcher Lebensläufe wie denen von Günderrode und Kleist entstanden …. Ich habe diese beiden Figuren genommen, um ihre Problematik für mich durchzuspielen. Ich hab es historisch sehr genau gemacht, weil … ich die beiden historischen Figuren nicht beschädigen wollte. Die Briefe von Kleist und die Aufzeichnungen der Günderrode geben soviel Material genau über diesen Punkt: Individuum und Gesellschaft, daß ich keine Figuren „erfinden“ mußte …  1985 (980 Z)

Quelle: Christa Wolf. Projektionsraum Romantik. Ein Gespräch. In: Christa und Gerhard Wolf: Ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht. Berlin: Aufbau, 1985, 376f.

Fortgesetzter Versuch. Aufsätze, Gespräche, Essays (1979)

Christa Wolf (geb. 1929): Bleibt der Entschluß, mündig zu werden. Wenn man dafür Wegbereiter und Begleiter braucht, soll uns um die Prosa nicht bange sein: sie ist ja ein Produkt des Reifeprozesses der Menschheit, spät entwickelt, geradezu erfunden, Differenzierungen zu schaffen und auszudrücken. Prosa schafft Menschen, in doppeltem Sinn. Sie baut tödliche Vereinfachungen ab, indem sie die Möglichkeiten vorführt, auf menschliche Weise zu existieren. Sie dient als Erfahrungsspeicher und beurteilt die Strukturen menschlichen Zusammenlebens unter dem Gesichtspunkt der Produktivität …Die Zukunft wird wissen, wie wichtig es ist, den Spiel-Raum für die Menschen zu vergrößern. Prosa kann die Grenzen unseres Wissens über uns selbst weiter hinausschieben. Sie hält die Erinnerung an eine Zukunft in uns wach, von der wir uns bei Strafe unseres Untergangs nicht lossagen dürfen.
Sie unterstützt das Subjektwerden des Menschen. Sie ist revolutionär und realistisch: sie verführt und ermutigt zum Unmöglichen.

(1968; in: Fortgesetzter Versuch, 1979, S. 40f.

Anverwandlung mythischer Themen (1983-1986)

Kassandra (1983)

Kassandra: Tochter des Königspaares Hekabe und Priamos, begabt mit der Fähigkeit zur Weissagung, doch geschlagen mit dem Fluch, niemand würde ihr glauben. Eine große Gestalt aus dem Mythos um den troianischen Krieg. In vier Vorlesungen beschreibt Christa Wolf, wie diese Figur von ihr Besitz ergreift, wie sie sich ihr nähert, und sie gibt in der Erzählung ihre Vision: Kassandra, als Gefangene vor dem Löwentor von Mykene, erwartet den Tod; doch sie ist gewillt, bis zum letzten Augenblick Zeugin dessen zu sein, was geschieht. Sie erinnert ihr Leben: ihre kindliche Liebe zum Vater und die schmerzvolle Trennung vom Königshaus, ihre Flucht in den Wahnsinn, wenn ihre Wahrheit gegen die des Palastes stieß, das mörderische Geschäft des Krieges, in dem auch sie nur Objekt war, und ihr Erleben der Liebe, ihr Hinfinden zu den Frauen in den Höhlen am Idaberg, die dem Töten ringsum ein volles, tätiges Miteinanderleben entgegensetzen. Ein herausgehobenes Schicksal wird erzählt und doch eines wie viele. Es gehört der Vergangenheit an, ist mit den Details fest verankert in einer frühen Zeit der Menschheitsgeschichte und rückt doch – schwebend zwischen Mythos und Utopie – als Erlebnis unglaublich nahe.

U4
„Seit Kassandra, der keiner glauben wollte, die die Mächtigen, die Männer verärgerte, die schließlich Opfer ihrer Sehergabe wurde, seit damals hat alles seinen Lauf genommen. Jetzt ist Endspurt. Sollte Kassandra Chancen haben, heute gehört zu werden?“
Quelle: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt

U2

Eine Schlüsselerzählung nennt die Autorin dieses Buch, dessen Entstehung sie eindrücklich beschrieben hat (Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra, Frankfurter Poetik-Vorlesungen. Sammlung Luchterhand Band 456). Kassandra, die Prophetin des Untergangs, die man nicht hören wollte – jene aus der griechischen Mythologie durch Homer und Aischylos überlieferte Figur wird in Christa Wolfs Erzählung zum Modell, in dem die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eine unlösbare Verbindung eingehen.

Troia ist gefallen, der zehnjährige Krieg der Troer und Griechen ist beendet. Die überlebenden Sieger kehren mit ihrer Beute zurück nach Griechenland. Kassandra, Tochter des toten Troerkönigs Priamos, Priesterin, Seherin, ist ein Beutestück des Agamemnon, König von Mykene. Kassandra weiß: der überlebet die Rückkehr zu seiner Frau Klytaimnestra nur um wenige Stunden. Dieselbe Frau wird auch sie umbringen. Agamemnon ist schon in der Burg. Ihr bleibt noch eine kurze Zeit. Sie sitzt auf dem Wagen, mit dem sie hergebracht wurde, hinter ihr ihre ganz jungen Zwillinge und Marpessa, die Dienerin. Vor ihr das Löwentor von Mykene. Was ihr geblieben ist: denken. Erfüllen, was sie sich vorgenommen hat. Auch wenn es keinen Zeugen gibt; auch wenn, was ihr noch zu formulieren gelingt, niemals ein mensch erfährt: Sie will die Bewußtheit nicht verlieren. Sie will Zeuge sein.
In einem Strom von Erinnerungen, Assoziationen, Überlegungen, Deutungen und Umdeutungen ihrer Erfahrung stellt sich Kassandra ihrer eigenen Geschichte. Es ist die uralte und ganz gegenwärtige Geschichte einer Frau, die zum Objekt gemacht werden soll. Sozial gebunden an die herrschende Oberschicht, emotional gefesselt an den Vater, an die Geschichte und Gegenwart des Königshauses, erlebt sie einen schweren, langwierigen Prozeß der Loslösung: Indem Troia den Krieg vorbereitet und führt, wird es dem Feind, den griechischen Eroberern, immer ähnlicher. Kassandras ‚Sehergabe‘ besteht darin, daß sie die Folgen dieses Prozesses ‚sieht‘, und daß sie sagt, was sie sieht. Das bringt sie in schmerzlichen Gegensatz zum geliebten Vater, das treibt sie in den Wahnsinn, macht sie zur Außenseiterin im Palast und im Tempel des Apollon, dessen Priesterin

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sie ist; das bringt ihr Gefangenschaft ein. Erzählt wird die Entwicklung der  Kassandra zu einer selbständigen Frau, der es möglich ist, neue Bindungen einzugehen: vor allem die zu Aineas, aber auch zu Frauen, die in den Bergen um Troia ein anderes Leben führen als das der Burg, und die andere Göttinnen anbeten als den glatten Apoll und die von Vater Zeus geschaffenen Pallas Athene. Hier wird ihr schmerzlich bewußt, daß zwischen Töten und Sterben ein Drittes ist: Leben. Krieg und Vatergesellschaft sind die inneren Bezugspunkte dieses drängenden Monologs. „Christa Wolfs Kassandra, als Figur zwischen den Fronten, der untergehenden eigenen Kultur und der Utopie der Wahrheit, ist so aktuell, weil der Krieg, vor dem sie damals warnte, es heute nicht mehr ist.“ (Frankfurter Rundschau)

Es war ein spektakuläres Ereignis, als Christa Wolf 1982 an der Frankfurter Johann Wolfgang von Goethe-Universität ihre Poetik-Vorlesungen hielt. Und die nachfolgende Buchveröffentlichung wurde zu einem Welterfolg: In Kassandra greift Christa Wolf auf einen Mythos des abendländischen Patriarchats zurück, den Trojanischen Krieg. Während Kassandra, die Seherin, auf dem Beutewagen des Agamemnon sitzt, überdenkt sie noch einmal ihr Leben. Mit ihrem Ringen um Autonomie legt sie Zeugnis ab von weiblicher Erfahrung in der Geschichte.

Mit ihrer Erzählung Kassandra und den Frankfurter Poetik-Vorlesungen Voraussetzungen einer Erzählung, in denen das Entstehen von Kassandra begleitet wird, entwirft Christa Wolf ein dichtes Gewebe aus literarischem Text und poetologischer Reflexion. Ihre Darstellung einer mythologischen Figur, die uns als faszinierende Zeitgenossin begegnet, ist längst zum Klassiker und internationalen Bestseller geworden.

Steenhuis: Wie kamen Sie dazu, Kassandra zu schreiben?

Wolf: Das hing mit den Zeitumständen zusammen. Wir hatten Angst vor einem Atomkrieg, vor der Vernichtung unserer Zivilisation. Ich fragte mich: Wo liegen die Wurzeln dieser zerstörerischen Kräfte unserer Zivilisation, die zur Selbstvernichtung führen? Ich ging immer weiter zurück in die Geschichte. Die sinnliche Erfahrung der griechischen Landschaft, als ich die alten Stätten sah, war entscheidend. Da hatte ich den Ort, an dem ich die Erzählung festmachen konnte. Ich suchte nach einer Metapher, dafür, wie eine Frau sich in einer solchen zerstörerischen Gesellschaft verhalten konnte. Kassandra und Troja waren das Modell dafür.

Quelle: Schreiben im Zeitbezug. Gespräch mit Aafke Steenhuis, 11.12.1989. In: Christa Wolf. Reden im Herbst. Aufbau 1990, S. 150f.

Ich habe dieses Land geliebt. Daß es am Ende war, wußte ich, weil es die besten Leute nicht mehr integrieren konnte, weil es Menschenopfer forderte. Ich habe das in „Kassandra beschrieben, die Zensur stocherte in in den „Vorlesungen“ herum; ich wartete gespannt, ob sie es verstehen wagen würden, die Botschaft der Erzählung zu verstehen, nämlich, daß das Troja untergehen muß. Sie haben es nicht gewagt und die Erzählung ungekürzt gedruckt. Die Leser in der DDR verstanden sie.
Quelle: Brief von Christa Wolf an Günter Grass vom 21.3.1993. In: Vinke, Herrmann: Akteneinsicht Christa Wolf. Hamburg 1993, S. 308.

Ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht. Gesprächsraum Romantik. Prosa und Essays (mit Gerhard Wolf) (1985)

„Ein Zufall kann es nicht sein, daß wir begonnen haben, den Abgeschriebenen nachzufragen, das Urteil, das über sie verhängt wurde, anzufechten, es zu bestreiten und aufzuheben – fasziniert durch Verwandtschaft und Nähe, wenn auch der Zeiten … eingedenk, die zwischen uns und denen liegen …“ Gemeint sind Hölderlin, Kleist, Heine, Bettina und Achim von Arnim – Dichter, die zwischen der klassischen Kunstperiode und einer Literatur im Vorfeld der Revolution von 1848 lebten und schrieben, Dichter, die zusammengehörten oder als Schatten in der Biographie der anderen auftauchten.

Der Begriff „Romantik“ trifft nur einige von ihnen. Christa und Gerhard Wolf nehmen ihn als Gesprächsangebot, als Reibungspunkt, um die Lebensmuster der Generationen Hölderlins und der Romantiker gegeneinanderzusetzen, ihren „inneren Geschichten“ nachzuspüren. Zwei Autoren von heute nähern sich ihren Vorgängern, greifen Motive und Ideen auf, die sie verfolgen und einander zuspielen; sie begegnen zurücksehend „unruhigen, in so langer Zeit nicht beschwichtigten Blicken“ und stoßen auf Zeilen, die uns treffen, „anrührend und gültig über anderthalb Jahrhunderte hinweg“.

wie Aufbau 1985, ohne diese letzten Zeilen

… zuspielen; sie begegnen zurücksehend „unruhigen, in so langer Zeit nicht beschwichtigten Blicken“ und stoßen auf Zeilen, die uns treffen, „anrührend und gültig über anderthalb Jahrhunderte hinweg“.

Hölderlin, Kleist, Heine, die Günderrode, Bettina und Achim von Arnim – Christa und Gerhard Wolf nehmen ihre Werke und Lebenswege als Gesprächsangebot, als Reibungspunkt, um ihren „inneren Geschichten“ nachzuspüren. Zwei Autoren von heute nähern sich ihren Vorgängern, greifen Motive und Ideen auf, die sie verfolgen und einander zuspielen.

Ich hatte den Eindruck, Sie waren erschrocken über die aktuelle Sprengkraft, die ich in Leben und Haltung dieser Person, der Bettine, für heute sah und unverblümt herausarbeitete; Sie setzten dagegen das sehr ehrenwerte, aber doch etwas angestaubte Romantikerbild der Ricarda Huch.

Quelle: Christa Wolf: 246. Brief an Roland Links vom 19.02.1986. In:Wolf, Sabine (Hg.):  Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten. Suhrkamp 2016, S. 505.

Die Dimension des Autors Bd. I und II (1986)

Die erste umfassende Sammlung von Essays und Aufsätzen, Reden und Gesprächen aus fünfundzwanzig Jahren ermöglichen die Rekonstruktion von Erfahrungen und Entwicklungen: Entwicklung der Schriftstellerin Christa Wolf, Entwicklung von öffentlichem Bewußtsein, Entwicklung von Einsichten und Ansichten. „Was die Arbeiten der Christa Wolf auszeichnet, ist diese sonderbare Verschränkung von Besonderem und Allgemeinem, von Individuum und Politik, von Augenblick und Geschichte.“ Franz Schuh

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„Ich kann nur über etwas schreiben, was mich beunruhigt. Insofern unterscheiden sich bei mir die einander ablösenden (oder einander durchdringenden) prosaistischen und essayistischen Äußerungen nicht grundsätzlich voneinander. Ihre gemeinsame Wurzel ist die Erfahrung, die zu bewältigen ist: Erfahrung mit dem ‚Leben‘ – also der unvermittelten Realität einer bestimmten Zeit und einer bestimmten Gesellschaft -, mit mir selbst, mit dem Schreiben – das ist ein wichtiger Teil meines Lebens -, mit anderer Literatur und Kunst.“

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„Diese Sehnsucht, sich zu verdoppeln, sich ausgedrückt zu sehen, mehrere Leben in dieses eine schachteln, auf mehreren Plätzen der Welt gleichzeitig sein zu können – das ist, glaube ich, einer der mächtigsten und am wenigsten beachteten Antriebe zum Schreiben.“

Da hat meine Schreibmotivation sich über die Jahrzehnte hin nicht grundsätzlich verändert, aber der Akzent hat sich verlagert. Immer mehr wurde ich mir darüber klar, daß mein Hauptantrieb für Schreiben Selbsterforschung ist: Immer dann, wenn ich über mein Verhältnis zu meiner Zeit, zu ihren Strömungen, Institutionen, zu Zeitgenossen, zu mir selbst schreibend etwas herausfand, was ich vorher nicht geußt hatte oder jedenfalls nicht hatte aussprechen können – immer dann stellte sich jener besondere Zustand der Erregung über die Wirklichkeit, die ja nicht ein gebilde außerhalb von uns ist, sondern ein Prozeß, dem wir unterliegen und den wir zugleich selbst mit hervorbringen. Dies ist es, was mir produktiv erscheint.

Quelle: Christa Wolf: Die Dimension des Autors. II. Berlin 1989, S. 477. (oder: W8, S. 370f.)

Texte/Reden in der Friedlichen Revolution (1987-1989)

Störfall. Nachrichten eines Tages (1987)

„Wieder einmal, so ist es mir vorgekommen, hatte das Zeitalter sich ein Vorher und Nachher geschaffen. Ich könnte mein Leben beschreiben … als Folge solcher Einschnitte, als eine Folge von Eintrübungen durch immer dichtere Schatten. Oder im Gegenteil als fortlaufende Gewöhnung an härtere Beleuchtungen, schärfere Einsichten, größere Nüchternheit.“

Wie aus einer sehr fernen Zukunft hat sich die Erzählerin an jenem Frühlingstag betrachtet: aufmerksam und nachdenklich. „Das ist einer dieser Tage gewesen“, wird sie später darüber schreiben können, „an dem mir alle Zeichen eingefallen sind, die wir schon zu sehen gekriegt haben, ohne sie zu verstehen.“

„Der Tag ist makellos geblieben bis zu seiner letzten Minute.“ An diesem Tag kommt die Nachricht aus Tschernobyl in einem kleinen Dorf in Mecklenburg an. An diesem Tag muß der Bruder der Erzählerin sich in der fernen Stadt einer Hirnoperation unterziehen.
An diesem Tag kommen Besucher auf den Spuren alter Kriegserinnerungen in den Ort. An diesem Tag will der alte Nachbar ein paar Saarkartoffeln in den Boden bringen. An diesem Tag soll man eigentlich nicht im Garten arbeiten.
„Störfall“ ist Christa Wolfs Antwort auf eine nicht zu beantwortbare Frage: Was ist an diesem Tag im April 1968 mit den Menschen geschehen?

Im Frühling 1986, auf dem mecklenburgischen Land, sind die Blüten an den Kirschbäumen förmlich explodiert – aber das Wort vom Explodieren wagt man nicht einmal mehr zu denken, seit die Nachricht sich verbreitet: Im Kernreaktor von Tschernobyl hat eine Explosion stattgefunden. Und während die Erzählerin den stündlichen Warnungen im Radio lauscht, muß sich ihr Bruder einer riskanten Gehirnoperation unterziehen.

Zwei Störfälle, eine kollektive und eine individuelle Katastrophe, an einem Tag: Christa Wolfs Erzählung schildert den Einbruch des Unfaßbaren in das menschliche Leben, entfesselte Kräfte, über die wir keine Kontrolle mehr haben.

Das ist mein Ideal. Bei Störfall war mir das bewußt. Mein Ideal war, so zu schreiben, wie das Gehirn funktioniert. Aber das Buch ist, vor allem hier in der DDR, aufgenommen worden als ein Plädoyer für oder gegen die Kernenergie! Durch die Parallelität der Gehirnoperation meines Bruders und des Kernkraftwerksunglücks in Tschernobyl wollte ich versuchen, Prosastrukturen zu schaffen, die der Arbeit des Gehirns am nächsten kommen. Das ist natürlich unmöglich, das wußte ich auch. Das war das eigentliche Problem, das mich an dem Buch interessiert hat. Das merkt natürlich niemand … Ja – Sie haben es gemerkt!

Quelle: Schreiben im Zeitbezug. Gespräch mit Aafke Steenhuis, 11.12.1989. In: Christa Wolf. Reden im Herbst. Aufbau 1990, S. 140f.

Die Dimension des Autors (1987)

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„Ich kann nur über etwas schreiben, was mich beunruhigt. Insofern unterscheiden sich bei mir die einander ablösenden (oder einander durchdringenden) prosaistischen und essayistischen Äußerungen nicht grundsätzlich voneinander. Ihre gemeinsame Wurzel ist die Erfahrung, die zu bewältigen ist: Erfahrung mit dem ‚Leben‘ – also der unvermittelten Realität einer bestimmten Zeit und einer bestimmten Gesellschaft -, mit mir selbst, mit dem Schreiben – das ist ein wichtiger Teil meines Lebens -, mit anderer Literatur und Kunst.“

Bd. 2 
„Diese Sehnsucht, sich zu verdoppeln, sich ausgedrückt zu sehen, mehrere Leben in dieses eine schachteln, auf mehreren Plätzen der Welt gleichzeitig sein zu können – das ist, glaube ich, einer der mächtigsten und am wenigsten beachteten Antriebe zum Schreiben.“

Zu Christa Wolf

Wer an Christa Wolf denkt, dem kommen Essays, Aufsätze und Gespräche ebenso schnell in den Sinn wie Erzählungen und Romane. Ja, es könnte durchaus sein, daß die Essayistin Wolf bereits die Prosaistin verdrängt hat.
So oder so: die immer größer werdende Schar der Christa Wolf-Leser wird dem Aufbau-Verlag dankbar sein für diese handliche und erschwingliche Sammlung von Aufsätzen, Essays, Gesprächen und Reden. Das um so mehr, da in Die Dimension des Autors nur Christa Wolf zu Worte kommt. […] Christa Wolf, da bestehen keine Zweifel, ist ohnehin die beste Interpretin ihrer eigenen Werke.
Entsprechend persönlich, einfach und zwanglos fällt die Gliederung der Texte aus.

Quelle: Alexander Stephan: Rezension. In: The Germanic review. 1989, H 64, S. 96.

Ansprachen (1988)

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Dieser Band sammelt Reden, Reflexionen und Briefe Christa Wolfs aus den Jahren 1986 bis 1988, die nicht mehr in die große Ausgabe ihrer publizistischen Arbeiten Die Dimension des Autors eingegangen sind: Reflexionen über eine kykladische Frauenstatue aus dem Neolithikum, die sie im Museum in Athen sah; Geburtstagsadressen für Erich Fried und Hans Mayer; ein erst nach dessen Tod veröffentlichter Brief an Franz Fühmann; Beiträge zum

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Friedensforum des DDR-Schriftstellerverbandes und zum Schriftstellerkongreß 1987 und schließlich die beiden in der Bundesrepublik mit großer Aufmerksamkeit aufgenommenen Preis-Reden aus demselben Jahr: die Laudatio für Thomas Brasch, dem Christa Wolf in Frankfurt a. M. den Kleist-Preis übergab, und die Münchner Dankrede beim Empfang des Geschwister-Scholl-Preises, in der sie für ihre „öffentliche“ Arbeit die Maxime formulierte: „Besonnen, doch unbeirrt sollte man in der Gesellschaft, in der man lebt, so weit wie möglich an Veränderungen mitwirken, die notwendig sind, um diese Erde für das nächste Jahrtausend bewohnbar zu machen.“

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„Heute stehen wir, glaube ich, in einem heiklen geschichtlichen Augenblick, weil die Auflösung verhärteter Frontstellungen und Feindbilder in Gruppen und Menschen, denen gerade diese Härte Halt gibt, Angst und Aggressivität freisetzt. Wer da zu vermitteln sucht, muß sich auf Haß und Beschimpfungen gefaßt machen. Besonnen, doch unbeirrt sollte man in der Gesellschaft, in der man lebt, so weit wie möglich an Veränderungen mitwirken, die notwendig sind, um diese Erde für das nächste Jahrtausend bewohnbar zu erhalten.“

[ohne Quellenangabe, aber Zitat von Christa Wolf aus: Dankrede zum Geschwister Scholl-Preis. In: Ansprachen, S. 80.

Sommerstück (1989)

„Das ist es“, fühlen beide, Ellen und Jan, als sie in einem mecklenburgischen Dorf ein Haus besichtigen. Schon lange, schon vor dem letzten, wüsten Winter in der Stadt hatten sie empfunden, daß sie anders leben müßten als bisher. Unter der intensiven Sonne des Sommers, den man später „Jahrhundertsommer“ nennen wird, lassen sich Ellen und Jan, und mit ihnen nachziehende Freunde, in einen Lebenstaumel reißen: Bei griechischer Musik sitzen sie bis in die Nächte unter dem hohen Himmel zusammen, reden über Gedichte und Baustoffe, essen und trinken, erzählen sich Träume. Überschwenglich und fassungslos wie die Zeichen von der Hitze beherrschten Natur sind ihre Gefühle – Hoffnungen und Wünsche werden offenbar und Ängste, Zweifel, Beschädigungen.
Das andere Leben, das zwanglose, geborgene Zusammensein, wird begonnen und ein Vorrat an Gemeinsamkeit angelegt, um vergangenes und bevorstehendes Alleinsein, alte und künftige Kränkungen ertragen zu können.
Sie proben ein „Sommerstück“ vom Landleben, in dem die Worte „Rückzug“ und „Inselleben“ herumgeistern und an das sie sich dennoch sehnsüchtig erinnern werden: „Damals haben wir gelebt.“

Was ist – im Leben wie in der Literatur – Selbstdarstellung, und was stellt das Ich wirklich dar? Das spannungsvolle Verhältnis von unverstelltem Zueinander und Selbstbehaupten gegen den anderen rückt in den Blick. Wiederum wird im „Sommerstück“ nach dem Leben gefragt, das gelebt werden sollte, und dem, das gelebt werden kann – beides scheint nur in glücklichen Momenten deckungsgleich.  Jürgen Engler

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„Wir wußten, wie wollten zusammen sein. Es kam vor, daß wir uns fragten, wie wir einmal an diese Jahre denken, was wir und und anderen darüber erzählen würden. Aber wirklich geglaubt haben wir nicht, daß unsere Zeit begrenzt war.
Heute, da die Endlichkeit der Wunder feststeht, der Zauber sich verflüchtigt hat, der uns beieinander und am Leben hielt – ein Satz, eine Formel, ein Glauben, die uns banden, deren Schwinden uns in einzelne Wesen verwandelte, denen es freisteht zu bleiben oder zu gehen: Heute scheinen wir keine stärkere, schmerzlichere Sehnsucht zu kennen als die, die Tage und Nächte dieses Sommers in uns lebendig zu erhalten.“

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„Damals, so reden wir heute, haben wir gelebt. Wenn wir uns fragen, warum der Sommer in der Erinnerung einmalig erscheint und endlos, fällt es uns schwer, den nüchternen Ton zu treffen, der allein den seltenen Erscheinungen angemessen ist, denen das Leben uns aussetzt.“
Ein schöner Sommer, ein „Jahrhundertsommer“, wie es später heißen wird, nach einem frostigen Winter, ein mecklenburgisches Dorf, eine Handvoll Menschen, die sich dort zusammenfinden, als suchten sie Zuflucht beieinander. Zurückgewiesen, an den Rand gedrängt, haben sie die Stadt hinter sich gelassen, den grau gewordenen Alltag. Jetzt zeigen sie einander die alten Bäume, die reedgedeckten Katen und die Wege, die zu ihnen führen. Gemeinsam erkunden sie die neue Umgebung, besichtigen die „kleinen Städte“ an der Fernstraße, richten sich ein und haben manchmal das Gefühl, nach Hause gekommen zu sein.
Die Tage, die gemeinsam verbrachten langen Sommerabende sind wie ein einziges nicht endendes Fest. „Wirklich geglaubt haben wir nicht, daß unsere Zeit begrenzt war.“ Es ist, als lernten sie miteinander endlich das wirkliche Leben kennen. Ein neuer Anfang scheint möglich, und mit ihm Freundschaft, Nähe, Glück. Alles Schöne scheint mit der Fähigkeit begabt, sich viele Male zu wiederholen. „Gab es das also doch, wonach wir instinktiv gesucht hatten, als die falschen Wahl-

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möglichkeiten uns in die Zwickmühle trieben? Eine dritte Sache? Zwischen Schwarz und Weiß? Recht und Unrecht, Freund und Feind – einfach leben?“

In ihrer den Freuden des Sommers gewidmeten Erzählung Sommerstück vergegenwärtigt sich die Erzählerin noch einmal jene Zeit – „heute scheinen wir keine stärkere, schmerzlichere Sehnsucht zu kennen als die, die Tage und Nächte jenes Sommers in uns lebendig zu erhalten.“ Und sie versucht, Momente aufzuspüren, in denen sich Veränderungen ankündigten, das Ende.
„Etwas würde sich verändern, heute sagen wir alle, wir hätten es gewußt, daß es so nicht bleiben konnte. Die Häuser sind abgebrannt, die Freundschaften sind lockerer geworden, als hätten sie auf ein Signal gewartet. Der Schrei, der uns in der Kehle saß, ist nicht ausgestoßen worden.“
Ein Buch der Erinnerung, ein Nachdenken über Aufbrüche, gescheiterte Entwürfe, Enttäuschungen, über das Heimweh nach einer Vergangenheit, in der alles möglich schien, in der es möglich schien, die Welt zu verändern. Ein Buch auch über das Altern und die Begegnung mit dem Tod. Ein sehr offenes, sehr persönliches Buch, von dem erste Fassungen parallel zu Kein Ort. Nirgends entstanden und das die Autorin jetzt erstmals zur Veröffentlichung freigibt.

Einen Sommer auf dem mecklenburgischen Land erlebt die Schriftstellerin Ellen, zusammen mit Familie und Freunden. Der gesellschaftliche Stillstand ist Ende der siebziger Jahre deutlich zu spüren, aber für die Dauer einiger weniger Monate, die in der Erinnerung einmalig und endlos scheinen, entsteht hier eine lebendige Gemeinschaft. Sommerstück ist die Geschichte eines Jahrhundertsommers und zugleich der Abgesang auf eine politische Utopie.

Was in Sommerstück beschrieben ist, habe ich in den Jahren nach 1975 erlebt. Es war eine neue Erfahrung, dieses Leben auf dem Lande, der Freundeskreis um uns herum. Eine Erfahrung, die viele Menschen in dieser Zeit machten; es war deutlich geworden, daß die politische Macht keine kritische Mitarbeit dulden würde. …

In Sommerstück habe ich mehrere Sommer zusammengezogen. In der gleichen Zeit habe ich Kein Ort. Nirgends und Kassandra geschrieben. Im Hintergrund spielten sich die Freundschaften und das Zusammensein ab, die ich später in Sommerstück beschrieben habe. In diesen Gruppen haben damals viele Menschen in der DDR ihre Integrität bewahrt und sich freigedacht. Das Buch ist für viele ein Stück Beschreibung ihres eigenen Lebens, wie ich jetzt weiß. Ich glaube auch, daß es sogar eine Vorankündigung der späteren Ereignisse ist, denn es schildert, warum es so nicht weitergehen konnte.
Ich zögerte sehr, es zu veröffentlichen, weil es mein persönlichstes Buch ist. … Man hat mich überreden müssen, das Buch zu publizieren. Bei jedem Buch wird es schwerer.

Quelle: Schreiben im Zeitbezug. Gespräch mit Aafke Steenhuis, 11.12.1989. In: Christa Wolf. Reden im Herbst. Aufbau 1990, S. 148f.

Was bleibt (1990)

Es erhob sich in der letzten Reihe eine junge Frau und brachte das Wort „Zukunft“ ins Spiel – ein Wort, gegen das wir alle wehrlos sind und das imstande ist, die Atmosphäre eines jeden Raumes zu verändern und eine jede Menschenansammlung zu bewegen. Und wenn in großer Leuchtschrift die Wörter WACHSTUM WOHLSTAND STABILITÄT an der Wand erschienen wären – nichts hätte mehr geholfen, denn nun standen die wirklichen Fragen im Raum, die, von denen wir leben und durch deren Entzug wir sterben können.
Christa Wolf

„Die Erzählung entstand 1979 und beschreibt die Zeit Ende der siebziger Jahre, in der Staatssicherheitsbeamte wochenlang bei uns vor dem Haus standen.“

Der morgendliche Blick durch die Vorhänge zeigt es: Wieder steht das Auto mit den unauffälligen Männern von der Stasi vor der Tür. Die Ich-Erzählerin, eine Schriftstellerin aus Ostberlin, weiß sich unter ständiger Beobachtung, in ihrer Wohnung, beim Telefonieren, auf dem Weg zu einer Lesung. Doch am Ende dieses Tages werden sich auch Lücken im System gezeigt haben, die Anlaß zu Hoffnung geben.

Die Veröffentlichung von „Was bleibt“, das nun manche als einen Versuch lesen, mich selber unter die in der DDR „Verfolgten“ einzureihen, andere als Beleg für meine „familiäre“ Verquickung mit dem Regime der DDR als „Staatsdichterin“. Muß man böswillig sein, um dieser Lesart zu verfallen? Oder einfach ahnungslos? Kann man einen Text so mißverstehen? Hätte ich ihn jetzt nicht herausgeben sollen? Ich schwanke zwischen verschiedenen Meinungen, aber eigentlich weiß ich immer noch nicht, was richtig ist – oder richtig gewesen wäre.

Quelle: Christa Wolf: Donnerstag, der 27. September 1990. In: Ein Tag im Jahr.1960-2000. Luchterhand 2003, S. 467.

Im Dialog (=Reden im Herbst, BRD-Ausgabe) (1990) - nicht veröffentlicht

 „Aber es könnte sein, daß dieser Prozeß einer Entfremdung sich unter der Oberfläche massenhafter, äußerer, äußerlicher Annäherung, ja Verbrüderung wider allen Augenschein sogar noch ausbreitet; dann nämlich, wenn im Zuge des noch als ‚Vereinigung‘, gar ‚Widervereinigung‘ beschriebenen schnellen Anschlusses der Deutschen Demokratischen Republik an die Bundesrepublik Deutschland die Geschichte des einen, dann nicht mehr existierenden Nachkriegsstaates auf deutschem Boden aus hingebungsvollem Anpassungsstreben auf der einen, aus Überlegenheits- und Siegesgefühl auf der anderen Seite öffentlich beschwiegen und in die Menschen zurückgedrängt würde, die sie gemacht, erlebt und erlitten haben.“ (Christa Wolf)

Reden im Herbst (1990)

Aber was ist inzwischen mit der Kunst? Der Posten ist vakant, den sie so lange besetzt hielt. Klage und Selbstmitleid halte ich für verfehlt, angebracht finde ich die Frage, ob wir nun etwa aus der Verantwortung entlassen sind oder wofür wir in Zukunft gebraucht werden. Die Literatur wird leisten müssen, was sie immer und überall leisten muß, wird die blinden Flecken in unserer Vergangenheit erkunden müssen und die Menschen in den neuen Verhältnissen begleiten. Christa Wolf (Januar 1990)

Die meisten dieser Texte sind jetzt, da sie gesammelt erscheinen, überholt. Von der „Zeit“? Vom „Gang der Geschichte“? Aber was ist das? Jedenfalls ist es nicht mehr der ruhige, behutsame, die Kerzen in ihrer Hand schützende Gang der jungen Leute um die Gethsemanekirche am 7. Und 8. Oktober 1989 – bedroht, aufgehalten, in die Flucht getrieben von den anrückenden Sicherheitskräften; nicht mehr der mutige, entschlossene Gang der hunderttausend Leipziger am 9. Oktober; nicht der befreite, souveräne, fast übermütige Gang der Berliner am 4. November. Schon wahr: Die da mitgegangen sind, haben Geschichte gemacht. Doch deutsche Geschichte geht anders, ich hatte es fast vergessen.

Quelle: Nachtrag zu einem Herbst. In: Christa Wolf. Reden im Herbst. Aufbau 1990, S. 7.

Akteneinsicht. Zerrspiegel und Dialog (1993)

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„Die Besitznehmer des Öffentlichen sind seit 1989 außer Rand und Band … Es ist wie ein Fieber, und mir scheint, es sind früher durch die großen politischen Blöcke Gewalten gebändigt worden, die jetzt frei flottieren, wie vergrabene Minen aus dem letzten Krieg. Wir werden darüber: wie bändigt man diese freigesetzte innergesellschaftliche Gewaltbereitschaft, ernsthaft nachdenken müssen. Aber vorerst wissen das wohl nur die so genau, die einmal Adressat einer solchen Kampagne waren.“
Antje Vollmer an Christa Wolf, 3.5.1993

 

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Zum erstenmal in der Geschichte der Aufarbeitung von Stasi-Material wird mit der Dokumentation Akteneinsicht Christa Wolf eine sog. Täter-Akte zur öffentlichen Einsichtnahme in Faksimile vorgelegt. In den Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes wurde die damals 30jährige Literatin von 1959 an für drei Jahre als „Inoffizieller Mitarbeiter“ geführt. An der IM-Akte entzündete sich im Frühjahr 1993 in den deutschen Medien eine Auseinandersetzung, die noch härter ausfiel als der Literaturstreit um Christa Wolfs Buch Was bleibt, drei Jahre zuvor.

In der umfangreichen, von dem Journalisten Hermann Vinke herausgegebenen Dokumentation ist nachzulesen, wie verzerrt das Bild der Autorin in einem Teil der Medien dargestellt wurde, wie eine Schriftstellerin beschädigt, ein Mensch an den Rand seiner Existenz getrieben wurde.

Zugleich ist nachzulesen, wie nach dem Bekanntwerden des IM-Vorgangs in dem Briefwechsel zwischen Christa Wolf und Freunden, Autorenkollegen und Lesern, zum Beispiel mit Volker Braun, Hans-Jürgen Fischbeck, Günter Grass, Peter Härtling, Friedrich Schorlemmer oder Antje Vollmer, Dialoge beginnen und Fragen gestellt werden, Fragen etwa nach der wachsenden innergesellschaftlichen Gewaltbereitschaft.

Akteneinsicht Christa Wolf will weder beschönigen noch rechtfertigen.  Akteneinsicht Christa Wolf ist der Versuch, den „Fall Christa Wolf“ als ein „Lehrstück aus dem deutschen Einigungsprozeß“ (Hermann Vinke) zu begreifen und durch Informationen zur Versachlichung der öffentlichen Auseinandersetzungen um DDR-Vergangenheit beizutragen. Denn: „Zu den großen Skandalen im vereinten Land zählt die Methode der Vergangenheitsbewältigung“ (Günter Gaus in seiner Rede vom Februar 1992, ein Jahr vor der Debatte um Christa Wolf).

In den letzten Wochen hatte ich Tag und Nacht damit zu tun, mich einerseits mit dem Horrorbild auseinanderzusetzen, das durch die Presse über mich verbreitet wurde; ich wußte, wenn ich dieses Bild in mich hineinlasse, bin ich verloren. Andererseits mußte und muß ich mich natürlich mit jener Person aus der Zeit, aus der die unselige Akte stammt, auseinandersetzen, muß die schreckliche Fremdheit überwinden, die ich zu ihr empfinde, und lernen, auch zu diesem Menschen, der ich einmal war, „ich“ zu sagen. Es ist unheimlich schwer, unglaublich schmerzhaft – dagegen verblaßten manchmal die Angriffe von außen.

Quelle: Christa Wolf an Karin Friedrich, 2.3.93. In: Akteneinsicht Christa Wolf. Luchterhand 1993, S. 227.

 

Nachdem ich meine Akten gelesen habe, wisse ich: Diese Akten enthalten nicht die „Wahrheit“, weder über den, zu dessen Observation sie angelegt wurden, noch über diejenigen, die sie mit ihren Berichten füllten. Sie enthalten, was die Stasi-Leute gesehen haben oder sehen sollten, mußten, durften. Sie widerspiegeln eine wachsende Paranoia der kleinsten Geister, schon die Sprache, die sie benutzten, sei nicht geeignet gewesen, „Wahrheit“ aufzunehmen, schon ihre Fragestellung reduziere die Menschen zu Objekten, derer sie sich bedienten.

Quelle: Christa Wolf: Montag, 27. September 1993. In: Ein Tag im Jahr. 1960-2000. Luchterhand 2003, S. 521.

Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen und Tagebüchern 1963-1973 / Brigitte Reimann, Christa Wolf (1993)

mit einem Vorwort von Gerhard Wolf; herausgegeben von Angela Drescher 1993

 „Übrigens fuhr ich mit Christa Wolf nach Moskau, sie ist so klug und mütterlich, eine Beschützerin vor allen Anfechtungen und der Typ Frau, der man nachts, im Dunkeln, alles erzählt. Jedenfalls war sie den ganzen Tag beschäftigt, mich zu retten: vor verrückten Taxis, unbedachten Einkäufen und schönen Männern.“ So beschreibt Brigitte Reimann den Beginn ihrer Bekanntschaft mit Christa Wolf 1963. Mit dieser Reise fing eine intensive Beziehung zweier eigenwilliger Frauen an, die sich in ihrem Anderssein akzeptierten und mochten. Für beide waren es krisenhafte Jahre, durchzogen von persönlichen Konflikten, bedrohlichen Erkrankungen und politischen Spannungen. Zu einer Zeit, wo man vieles nicht offen schreiben konnte, vertrauten sie sich auch in Briefen Sorgen, Ängste und Träume an, verstanden einander oft schon durch Andeutungen. Über die Jahre entstand eine Korrespondenz, die vom Tod überschattet gleichwohl vom intensiven Leben handelt, zu dem eine der anderen Mut macht.

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Ich hab oft gesagt, daß es über unsere Zeit leider später keine Briefliteratur geben wird, weil kein Mensch mehr Briefe schreibt, aus mehreren Gründen. Mitteilungen, Anfragen, Proteste – das ja. Aber einen richtigen Brief? Kann man sich denn auf irgendeinen Briefpartner verlassen? Und jetzt hast Du mir einfach geschrieben, und das hat mir sehr wohlgetan. Jedenfalls sagst Du mir genau das, was ich wissen wollte. Wie Du bist.
Christa Wolf an Brigitte Reimann (5.2.69)

Eigentlich wollte ich Dir was von mir erzählen, bloß so, weil es mich bedrückt und verwirrt. Aber das ist alles unterm Strich, und ich denke mir, daß Du nie dergleichen betrieben hast und eine Familie hast und mit lauter klugen und anständigen Leuten umgehst. Nur ich gerate immer wieder in die Gesellschaft von Verrückten und Barkeepern, und ein Glück, daß es hierzulande keine Stierkämpfer gibt, so käme ich mir vollends vor wie in einer Hemingway-Story.
Brigitte Reimann an Christa Wolf (11.7.70)

Der berührende Dialog zweier großer Autorinnen

In diesen Briefen und Notizen findet sich jede Nuance, die intensives Leben ausmacht. Zwei kreative, engagierte Frauen ermutigen einander, Konflikte durchzustehen und den eigenen Weg zu verfolgen. Dabei entfaltet sich ein authentisches Porträt des DDR-Alltags voller Schwierigkeiten, Hoffnungen und Illusionen.

Die Neuausgabe [2016] wird durch zum Teil unveröffentlichte Tagebuchauszüge wie der ergreifenden Schilderung Christa Wolfs von ihren letzten Besuchen bei der todkranken Freundin ergänzt.

Der Dialog zweier großer Autorinnen. Zwei kreative, engagierte Frauen ermutigen einander, Konflikte durchzustehen und den eigenen Weg zu verfolgen. Dabei entfaltet sich ein authentisches Porträt des DDR-Alltags voller Schwierigkeiten, Hoffnungen und Illusionen. Die Neuausgabe wird durch zum Teil unveröffentlichte Tagebuchauszüge wie der ergreifenden Schilderung Christa Wolfs von ihren letzten Besuchen bei der todkranken Freundin ergänzt.

Dieser Briefwechsel mit Brigitte Reimann wird hier viel gelesen, die Leute sehnen sich in der Kälte der neuen Verhältnisse sehr nach menschlichen Gefühlen – manchmal denke ich, sie sehnen sich nach einer Bestätigung dafür, daß es menschliche Gefühle überhaupt g i b t. Und ich plage mich beim Schreiben damit herum, die Gefühle nicht zu verfälschen …

Quelle: Christa Wolf: 379. Brief an Marianna D. Birnbaum vom 16.09.1993. In: Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten. Suhrkamp 2016, S. 757.

Auf dem Weg nach Tabou (1994)

Christa Wolfs neues Buch Auf dem Weg nach Tabou – eine Sammlung von Reden und Aufsätzen, Prosatexten und Tagebuchaufzeichnungen aus den letzten vier Jahren – ist Zeugnis für die Offenheit, mit der sich die Autorin den Konflikten und Veränderungen in ihrer eigenen Geschichte und der Geschichte dieses Landes nach 1989 stellt. An den Schnittstellen von Erfahrung und historischem Prozeß, Biographie und Gesellschaft, Körper und Sprache bewegt sich Christa Wolf schreibend auf ihre Wahrheit zu. Sie begibt sich auf eine Reise, deren Richtung erkennbar, deren Ende offengehalten wird. Mit Neugier und befreitem Blick verfolgt sie ihren Weg zwischen Trauer und Hoffnung.

Ein „Weg“? Vielleicht nur ein Pfad, und was heißt überhaupt „weiterkommen“. „Tabou“ – willkommene Doppeldeutigkeit. Jener Ort, liege er nun in Afrika oder sonstwo, den wir nie erreichen. Die Gangart nicht gleichmäßig, oft zögernd, stockend. Rückwege, Umwege eingeschlossen. Beobachtungen, Notizen, zu denen ich mich gedrängt und verpflichtet fühlte. So bin ich Menschen, Büchern, Bildern dankbar, die mich dazu anregten, und denen, die sie mir abverlangt haben. Januar 1994

Quelle: Christa Wolf: Selbstanzeige. In: Auf dem Weg nach Tabou. Kiepenheuer & Witsch 1994, S. 10.

Monsieur - wir finden uns wieder. Briefe 1968-1984 / Christa Wolf; Franz Fühmann. (1995)

U2

„Der liebe Gott der Schriftsteller macht schon, daß wir einander finden“, schreibt Franz Fühmann 1978 an Christa Wolf, in einem Jahr also, das für beide immer noch mit den Folgen des Protestes gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann belastet war. Natürlich kennen sie sich seit langem, aber aus sporadischen Nachrichten wird erst seit dem Herbst 1976 ein Briefwechsel, der vor allem durch die politischen und kulturpolitischen Auseinandersetzungen, in die beide verwickelt sind, vorangetrieben wird. Fühmann schreibt aus Märkisch Buchholz sarkastische Grußkarten und Telegramme, cholerische Fluch- und Wutbriefe, denen die Abschriften offener Briefe an Funktionäre und Minister beiliegen, nach Berlin. Christa Wolf teilt ihm ihre Befürchtungen mit und versucht, wenn er wieder verzweifelt, ihn zu beruhigen. Ein politischer und ein Arbeitsbriefwechsel entsteht auf diese Weise, der die Diskussion unter den kritischen Künstlern und Intellektuellen widerspiegelt und einen Eindruck vom Zusammengehörigkeitsgefühl vermittelt, das weit über eine Notgemeinschaft hinausging. „Wir brauchen einander, und wahrscheinlich ist es der Sinn dieser heillosen Epoche, daß sie uns zueinander rückt.“ (Fühmann)


U4 Aufbau

„Wer wirklich wissen will, wie eingeengt sich Schriftsteller unter den Bedingungen einer Partei- und Staatsdiktatur zu behaupten versucht haben, der lese den Briefwechsel zwischen Christa Wolf und Franz Fühmann aus den Jahren 1968-1984. Aus diesen Briefen sprechen Verzweiflung und Ausdauer, von Zorn beförderter Mut und schlimmste Befürchtungen, Trotz, der notfalls auf die Sprünge helfen mußte, und Resignation, der kein Witz mehr gelingen wollte. Mir hat die Lektüre dieser Briefe noch einmal deutlich gemacht, … wieviel Anlässe wir im Westen haben, unseren ostdeutschen Kollegen mit Hochachtung zu begegnen. Im Zweifelsfall haben sie jenen Mut bewiesen, den viele von uns … nicht unter Beweis stellen mußten …“ (Günter Grass)

Er war ein Mensch der andauernden und gründlichen Selbst-Prüfung, eine Anstrengung, die ihn gleichzeitig verzehrte und zum Schreiben trieb. Seine besten Bücher sind Zeugnisse und Produkte dieser Auseinandersetzung, in der er immer wieder seine Gewißheiten, auch und zuerst die über sich selbst, vernichtete und sich extremen Fragen stellte; er war davon überzeugt, daß ein Schreibender zuerst mit sich selbst ehrlich sein müsse, daß er anders kein Recht hätte, an Leser heranzutreten.

Quelle: Christa Wolf: Was tut die strenge Feder? In: Hierzulande andernorts. München: dtv 2001, S. 51. (oder W12, S. 536)

Was nicht in den Tagebüchern steht (1995)

Christa Wolf hat sich nie als Lyrikerin verstanden, dennoch hielt sie momentane Einfälle und unmittelbare Erlebnisse und Erfahrungen - so konzentriert wie möglich - in Versen fest. Ein Kleinod in der neuen RADIUS-Bibliothek.

Medea. Stimmen (1996)

Es ist nämlich so: Entweder ich bin von Sinnen, oder diese Stadt ist auf ein Verbrechen gegründet. Nein, glaub mir, ich bin ganz klar, mir ist ganz klar, was ich da sage oder denke, ich habe ja den Beweis gefunden, mit diesen Händen habe ich ihn betastet.

U2

Sie ist eine der faszinierendsten und zugleich widersprüchlichsten mythischen Gestalten, von Euripides wurde sie als Kindsmörderin in die Literatur eingeführt, spätere Jahrhunderte haben sie immer wieder um- und anders gedeutet: Medea. Heilerin, Priesterin, Liebende, Eifersüchtige, Verräterin, Intrigantin: Christa Wolf erzählt die Geschichte – teilweise Quellen von Euripides folgend – neu und entwirft das Porträt einer eigenwilligen, einer ungewöhnlichen Frau „zwischen den Zeiten“.
Ihre Medea ist, wie in allen Überlieferungen, die Tochter des Königs von Kolchis am Schwarzen Meer, dem östlichen Rand der damals bekannten Welt. Sie kann in ihrer Heimat nicht bleiben und flieht mit Jason, dem Argonauten, und einer kleinen Schar von Kolchern in das reiche Korinth, in dem andere Sitten herrschen, andere Werte gelten als im archaischen Kolchis.
Der Roman verfolgt ihre Geschichte von da an, als sie in Korinth auf die Spur eines Verbrechens kommt, dem König Kreon die Aufrechterhaltung seiner Herrschaft verdankt: die junge Königstochter und mögliche Thronfolgerin Iphinoe wurde ermordet. Sechs Stimmen – Medea, Jason sowie einige ihrer Gegner und Freunde – berichten in Monologen, die sich wechselseitig ergänzen und weitertreiben, wie das Verbrechen aufgedeckt wurde und Medea zum Sündenbock gemacht wird.
Medea ist in der eindrücklichen Schilderung Christa Wolfs eine Frau zwischen zwei Welten, die sich – fremd hier und dort – zu behaupten versucht. Ihr Verhalten, so steht zu vermuten, gilt als Provokation der Macht und der Mächtigen, seit Geschichte überliefert und geschrieben wird.

Als Frau des Argonauten Jason lebt Medea in Korinth, wohin sie ihm aus ihrer Heimat Kolchis gefolgt ist. Im königlichen Palast Korinths gerät sie in ein Spiel aus Verleumdungen, Intrigen und Lügen. Der Kampf um die Macht steht im Mittelpunkt, und Medea soll als Sündenbock geopfert werden. Die Medea der griechischen Tragödie, die Barbarin, Giftmischerin, die rachsüchtige Mörderin – hier wird diese Frauenfigur aus dem jahrtausendealten Mythos gelöst, das überkommene Bild revidiert. In ihrem Erfolgsroman erzählt Christa Wolf die Geschichte der Medea neu und entwirft das Porträt einer eigenwilligen, ungewöhnlichen Frau.

Ich war selbst überrascht, daß sich mir noch einmal ein mythologischer Stoff aufdrängte, aber so verwunderlich ist es doch nicht. Ich begann 1990/91, mich mit der Medea-Figur auseinanderzusetzen. Es zeigte sich mir in jenen Jahren, daß unsere Kultur, wenn sie in Krisen gerät, immer wieder in die gleichen Verhaltensweisen zurückfällt: Menschen auszugrenzen, sie zu Sündenböcken zu machen. – Feindbilder zu züchten, bis hin zu wahnhafter Realitätsverkennung. Dies ist für mich unser gefährlichster Zug. In der DDR hatte ich ja gesehen, wohin ein Staat gerät, der immer größere Gruppen ausgrenzte, der seine Integrationsfähigkeit immer mehr verlor. Jetzt erleben wir in der größer gewordenen Bundesrepublik Deutschland, wie immer größere Gruppen von Menschen überflüssig werden, aus sozialen, aus ethnischen und anderen Gründen. Diese Ausgrenzung des Fremden zieht sich durch die ganze Geschichte unserer Kultur. Immer schon vorhanden ist die Ausgrenzung des angstmachenden weiblichen Elements. Das zieht sich vom Beginn des Patriarchats durch die Geschichte.

Quelle: Christa Wolf.  Warum Medea? Gespräch mit Petra Kammann am 25.01.1996. In: Hilzinger, Sonja: Werke, 11. Medea. Stimmen. Luchterhand 2001, S. 252f.

Wüstenfahrt (1999)

Hierzulande.Andernorts (1999)

U4
Christa Wolf ist stets auf der Wegsuche im Labyrinth unserer Zeit. Dabei versammelt sie ferne und nahe Freunde um sich, Lebende und Tote, die persönlichen und gesellschaftlichen Konflikten nicht ausgewichen sind. In drei neuen Erzählungen durchdringen sich Seiten und Kontinente. Christa Wolf sitzt bei russischen Freunden am Tisch oder nähert sich der Metropole Los Angeles an. Dem tragischen existentiellen Gefangensein Im Stein steht komödisch die kalifornische Wüstenfahrt gegenüber: Eine bunte Gesellschaft versammelt sich, um zu sehen, wie die Sonne in farbigem Glanz untergeht und der Mond über der Wüste aufsteigt.

U2
In Selbstbetrachtungen und in der Auseinandersetzung mit Frauen und Männern, deren Leben von Hoffnung und Verzweiflung, von Hingabe und Widerstand gezeichnet war, ergründet Christa Wolf, wie tief die Verwerfungen des Jahrhunderts das Schicksal des einzelnen bestimmen können. Frida Kahlo, die Malerin, zwang ein Unfall ins Stahlkorsett, Irmtraud Morgner wollte die versteinerten Verhältnisse der DDR zum Tanzen bringen, Franz Fühmann hat mit Christa Wolf die Hoffnung auf eine neue, bessere Welt geteilt und, als diese gescheitert war, die Überzeugung, Schriftsteller seien verpflichtet standzuhalten, sich der Gegenwart zu stellen, sie sollten die Geschichte und nicht zuletzt den Mythos durchforschen nach zeugen der Humanität und des Widerstandes. Christa Wolf zeigt, wie ihr Kassandra und Medea geholfen haben, auch die heutigen Gesellschaftsstrukturen zu durchschauen. Sie nimmt eine Messe von Joseph Haydn zum Anlaß, um auf die Notwendigkeit von Utopien zu beharren, den „dünn ist die Decke der Zivilisation“. Mit dem Wort „Brot“ eröffnet sie das Verständnis für Heinrich Böll. Alle die Menschen, die Christa Wolf in diesem Buch würdigt, über die sie trauert oder deren Werken sie einfühlsam nachgeht, werden zugleich Gestalten ihres eigenen Werkes, und es scheint, als versammelten sich alle Im Stein, in diesem großartigen Monolog. Während einer Operation sind zwar die Schmerzen der Ich-Erzählerin ausgeschaltet, aber die Empfindungen und das Bewußtsein umkreisen das ganze Leben und vor allem: den Sinn des Lebens.

U4: Drei meisterhafte Erzählungen, Prosatexte, Reden und Aufsätze wieder den „Zeitgeist der Gleichgültigkeit und des blinden Eigennutzes“.

„Christa Wolf stellt klar, bekennt Farbe. Es ist nicht nur ein Nachdenken über die Biographie, sondern auch über Deutschland. Ihre Bücher gehen uns an – und das ist gut so.“
Walter Flemmer im Bayerischen Rundfunk

U2: Christa Wolf ist stets auf der Wegsuche im Labyrinth unserer Zeit. Zeugnis davon legen die hier versammelten Essays, öffentlichen Briefe und Reden aus der Zeit von 1994 bis 1998 ab, in denen die Erinnerung an Freunde wie Franz Fühmann, Heinrich Böll und Lew Kopelew ebenso wachgehalten wird wie an Frida Kahlo, Irmtraud Morgner u.a. Der Band enthält zudem drei wundervolle Erzählungen, in denen sich einmal mehr die Meisterschaft der bedeutendsten deutschen Schriftstellerin der Gegenwart zeigt. „Zwei Skizzen aus Amerika gehören zum Besten, was je von Christa Wolf zu lesen war.“ (Der Spiegel)

Leibhaftig (2002)

Leibhaftig ist die namenlose Heldin dieser Erzählung … einer existentiellen Krise ausgesetzt: Der Riß der Zeit, der Endzeit der DDR, geht mitten durch sie hindurch. Und eine Krankheit bringt sie an den Rand des Todes, macht ihren Körper zum Seismographen eines allgemeinen Zusammenbruchs und damit auch zum Schauplatz für Wolfs ureigenes Thema: den Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft.

Gesundwerden bedeutet, Kranksein nicht mehr für den einzig möglichen Zustand zu halten. Zu dieser Erkenntnis gelangt die Erzählerin, nachdem sie wochenlang gegen eine lebensbedrohliche Krankheit gekämpft hat. Vom Aufenthalt im Krankenhaus, vom Umgang mit Ärzten und Pflegepersonal, aber auch von der Auseinandersetzung mit sich selbst, mit der eigenen Geschichte und dem Staat, in dem sie lebt, wird hier berichtet – vielschichtig und mit scharfer Beobachtungsgabe.

Der Titel war schon seit längerer Zeit festgelegt: 'Irrgang', dies schien mir genau unseren Weg in diesem Land, in diesem System zu bezeichnen, ich wusste ja längst, dass alles fehl ging. Ich ging von meiner Erfahrung der Todesnähe aus, die ich im Sommer 88, mit meinen vielen Operationen und den immer wieder neu sich bildenden Eiterherden im Bauch gemacht habe... Damals war das Wissen um diesen Irrgang noch nicht allgemein, das ergab einen anderen Schreibhintergrund.

Quelle: Christa Wolf: Brief an Elisabeth Lenk, 5. Januar 1991. In: Man steht sehr bequem zwischen allen Stühlen. Briefe 1952.2011, S. 646.

Das dicht besetzte Leben (A. Seghers) (2003)

U4

Als sie einander wegen eines Interviews kennenlernten, war Anna Seghers durch ihren Roman "Das siebte Kreuz" bereits weltbekannt, Christa Wolf aber schrieb gerade ihre erste Novelle. Dennoch entwickelte sich rasch eine Freundschaft, die man nun in der Korrespondenz nachvollziehen kann. Warmherzig und behutsam wurden selbst divergierende Ansichten oder heikle Fragen vorgebracht, Ratschläge erteilt oder Alltägliches erzählt.
Essays und Gespräche, in denen Christa Wolf versuchte, Anna Seghers zu porträtieren und zu befragen, den Zauber und Zwiespalt ihrer Bücher und ihrer Person zu beschreiben, ergänzen die Briefe.
„Wenn ich ein bißchen an Deiner Seite humpeln und allerlei mit Dir schwatzen könnte, würde ich schon zufrieden sein.“ Anna Seghers, 1977

U2

Als 1959 die junge Redakteurin Christa Wolf ein Interview mit der weltbekannten Anna Seghers führte, war das der Beginn einer vielfältigen Arbeitsbeziehung, die bald in eine Freundschaft der beiden Autorinnen mündete. Seitdem hat Christa Wolf wiederholt versucht, Anna Seghers zu porträtieren, Zauber und Zweispalt ihrer Bücher und ihrer Person zu beschreiben. Nun veröffentlicht sie erstmals auch ihre Korrespondenz, die divergierende Ansichten oder heikle Fragen nicht ausspart, aber in jedem Satz Vertrautheit offenbart.

Sie liebt den Ausdruck: Das Leben ist dicht besetzt, und sie liebt das dichtbesetzte Leben, so wie ihres ist, und die Lust, die sie daran hat; sie liebt Menschen, die diese Lust mit ihr teilen, ohne Zimperlichkeit und ohne Trübsinnigkeit. Sie liebt es, zu schreiben (wenn auch das, gemessen am anderen, eine andere Art Liebe ist), am liebsten – in Ländern, in denen es wirkliche Cafés gibt – in so einem Café, in Paris, Marseille, Pamiers, Martinique … Keiner kümmert sich um einen, nicht mal der Kellner, und man hat doch alle die Leute um sich und kann hinausschauen auf die Straße. Sie kritzelte ihre linierten Schulhefte voll, die sie keineswegs aufhebt, wenn das Manuskript abgeschrieben ist: Wozu denn? Ich hab sowieso noch genug Papier um mich herum! – Übrigens, das, was ich gemacht habe, nicht besonders viel, nicht besonders wenig, ist bloß zustande gekommen, weil ich jeden Tag ein bißchen gearbeitet habe.

Quelle: Christa Wolf: Begegnungen mit Anna Segers. In: Fortgesetzter Versuch. Leipzig 1982, S. 241f.

Herr Wolf erwartet Gäste und bereitet für sie ein Essen vor (2003)

Ein Tag im Jahr 1960-2000 (2003)

Das Bedürfnis gekannt zu werden, auch mit seinen problematischen Zügen, mit Irrtümern und Fehlern, liegt aller Literatur zugrunde und ist auch Antriebsmotiv für dieses Buch. Es wird sich zeigen, ob die Zeit für ein solches Wagnis schon gekommen ist.
Aber der ausschlaggebende Grund dafür, diese Blätter zu publizieren: ich denke, sie sind Zeitzeugnis. Ich sehe es als eine Art Berufspflicht an, sie zu veröffentlichen. Unsere jüngste Geschichte scheint mir Gefahr zu laufen, schon jetzt auf leicht handhabbare Formeln reduziert und festgelegt zu werden. Vielleicht können Mitteilungen wie diese dazu beitragen, die Meinungen über das, was geschehen ist, im Fluß zu halten, Vorurteile noch einmal zu prüfen, Verhärtungen aufzulösen, eigene Erfahrungen wiederzuerkennen und zu ihnen mehr Zutrauen zu gewinnen, fremde Verhältnisse etwas näher an sich heranzulassen … 2003 (863 Z)

Christa Wolf: Mein siebenundzwanzigster September (Vorwort in: Ein Tag im Jahr). München: Luchterhand Literaturverlag 2003, S. 8.

»1960 begann die Schriftstellerin Christa Wolf ein Tagebuch-Projekt: Nach jedem 27. September jeden Jahres würde sie die Ereignisse und Gedanken dieses Tages aufzeichnen. Neben scheinbar banalen Beobachtungen, wie die des Wetters am frühen Morgen, Alltagserlebnisse einer Mutter und berufstätigen Frau, stellt sich Christa Wolf immer wieder die eine, entscheidende Frage: Soll ich in der DDR bleiben oder nicht? Die Verquickung aus Zeitgeschichte, persönlichem Alltag, politischem Essay, künstlerischer Reflexion und Selbstzweifel ist absolut einzigartig.« Brigitte

Ich habe über viele Jahre hin tagebuchartige Aufzeichnungen, die immer den gleichen Tag im Jahr beschreiben. Dieses normale, alltägliche Leben strukturiert offenbar mein Leben und mein Schreiben. Das hängt mit meiner Familie, mit Kindern und Enkelkindern zusammen. Mir ist wichtig, was an so einem Tag passiert. Ich versuche, mir zu merken, was Menschen sagen, was in der Zeitung steht, wie die Gefühle sich verändern. Die Empfindungen, die man morgens hat, sind anders als die, mit denen man abends vor dem Fernseher sitzt. Das ist gerade jetzt alles wieder sehr aufregend. Eine Konstante in meiner Arbeit ist, diese alltäglichen Dinge wichtig zu nehmen. Mein Ideal ist ein Gewebe, ein Netzwerk von Denken und Handeln.

Quelle: Schreiben im Zeitbezug. Gespräch mit Aafke Steenhuis, 11.12.1989. In: Christa Wolf. Reden im Herbst. Aufbau 1990, S. 141f.

Ja, unsere Kreise berühren sich (Charlotte Wolff) (2004)

"Sie werden verstehen, daß ich Ihnen schreiben muss“ - Christa Wolf eröffnet den Briefwechsel mit ihrer Namensvetterin Charlotte Wolff, weil sie bei der Lektüre von Wolffs Autobiografie unverhofft auf ihren eigenen Namen stößt. Denn Charlotte Wolff war auch Schriftstellerin, die bei der Lektüre von Christa Wolfs "Kein Ort. Nirgends" ein poetisches Bild entdeckte, das sie auf ganz ähnliche Weise in einem ihrer Gedichte verwendet hatte. Der Briefwechsel handelt oft von solchen "Wundern", von Koinzidenzen und Zusammentreffen, die die Rationalität zunächst herausfordern. Denn es ist die Zeit, als Christa Wolfs "Kassandra" gerade veröffentlicht war, in der sie die Frage nach der selbstzerstörerischen Tendenz in der Zivilisation des Abendlandes zum Ursprung patriarchaler Strukturen zurückverfolgt. Meist aber ist von Persönlichem die Rede, davon, ob sich für Charlotte Wolff am Ende eines langen Lebens im Exil so etwas wie Heimat einstellen kann, von den Herausforderungen und Erschöpfungen immer wieder sich neu anbahnender Projekte. Christa Wolf arbeitet während des Briefwechsels unter anderem auch an der Konzeption von "Sommerstück", Charlotte Wolff schreibt an ihrer großen Biografie zu Magnus Hirschfeld, dem Pionier der Erforschung der menschlichen Sexualität. Es wird ihr letztes Buch sein, sie stirbt im September 1986. So bleibt beider immer wieder ausgesprochener Wunsch, einander zu begegnen, unerfüllt.

Im Frühjahr 1983 hat Christa Wolf gerade die aufsehenerregenden Frankfurter Poetikvorlesungen und ihre große Erzählung Kassandra veröffentlicht. Zur gleichen Zeit arbeitet die Psychologin und Ärztin Charlotte Wolff – eine deutsche Jüdin, die 1933 zuerst nach Paris und dann nach London emigrierte – an einer umfangreichen Monographie zu Magnus Hirschfeld, dem Pionier der Erforschung menschlicher Sexualität.

Zwei Frauen, die sich nie persönlich begegnen werden. Aber in den drei Jahren ihres Austauschs entsteht ein so engagierter wie anrührender Briefwechsel über Arbeitsvorhaben, über den Alltag, über die Stellung der Künstlerin in einer männlich bestimmten Gesellschaft – und es ergibt sich das Bild einer stetig wachsenden Freundschaft.

Die Briefe, die sie mir schrieb, zeugen von dieser Suche nach gleichgestimmten Seelen, und wenn sie glaubte, einem Menschen begegnet zu sein, der ihr nahe war, hielt sie sich nicht zurück, sie kam ihm offen entgegen, sogar begeistert, konnte rückhaltlos loben, mir zum Beispiel ein großes Geschenk machen mit der Bemerkung, daß ich für sie „die deutsche Sprache neu ins Leben gebracht habe“.

Quelle: Gegen die Kälte der Herzen. Charlotte Wolff – „internationale Jüdin mit britischem Paß“. In: W12, 583f.

Mit anderem Blick. Erzählungen (2005)

Bald nach der Wende verbrachte Christa Wolf längere Zeit in Los Angeles. Weit im Westen, in einer fremden Welt, blickt sie auf ihr Leben im Osten des 1990 vereinigten Deutschland zurück, lässt Erinnerungen aufsteigen und nimmt mit allen Sinnen die neue Umgebung auf, die Menschen, die Landschaft am Rande des Pazifiks, das Leben in Kalifornien, in der Stadt der Emigranten, unter ihnen Bertolt Brecht, Thomas Mann und Lion Feuchtwanger. Drei Geschichten führen von diesem lebensgeschichtlichen Wendepunkt zu den Themen und Motiven, die Christa Wolf berühmt gemacht haben. In "Santa Monica" erinnert sie sich an die Leitbilder ihrer frühen Jahre, Seghers, Fürnberg, Bredel, Becher, an eine tragische Generation, die zwischen den Fronten zerrieben wurde. Wir finden jene Christa Wolf wieder, die in "Nagelprobe" Mustern ihrer Kindheit nachgeht, die "Im Stein", der Erfahrung einer Operation, neue Wege für ihre Sprache sucht, eine Selbstbefragung. "Mit anderem Blick" ist das erste Buch von Christa Wolf im Suhrkamp Verlag.

Bald nach der Wende verbrachte Christa Wolf längere Zeit in Santa Monica als Fellow des Getty Center, Los Angeles. Weit im Westen, unter für sie fremden gesellschaftlichen Verhältnissen, blickt sie auf ihr Leben in der DDR zurück und läßt Erinnerungen aufsteigen. Die Themen und Motive, die Christa Wolfs Arbeiten berühmt gemacht haben, stehen in diesen neun Erzählungen ebenso im Mittelpunkt wie die – heiter-ironische – Auskunft darüber, was ihre Welt im Innersten zusammenhält.

Der Worte Adernetz. Essays und Reden (2006)

Die Autorin Christa Wolf ist immer auch eine Leserin gewesen. In ihren Essays und Reden, die hier versammelt sind, würdigt sie ihre literarischen Vorbilder und setzt sich mit Werken auseinander, die für ihr eigenes Schreiben wichtig waren und sind. So eröffnet sie z. B. neue Zugänge zur Lyrik von Nelly Sachs und fragt: »Was wäre heute human?« So geht sie mit Heinrich Böll auf die »Suche nach einer bewohnbaren Sprache in einem bewohnbaren Land« und holt auch bei der Betrachtung der Werke von Anna Seghers, Volker Braun, Inge Müller, Brigitte Reimann, Maxie Wander oder Irmtraud Morgner stets die Gegenwart in die Textanalyse mit hinein.

Die bisher verstreut publizierten Texte, ergänzt um Unveröffentlichtes wie einen Aufsatz über Kurt Stern und ein Vorwort, zeigen das faszinierende Denk und Lektüregeflecht, in dem sich die Autorin Christa Wolf bewegt.

Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud (2010)

Los Angeles, die Stadt der Engel: Dort verbringt die Erzählerin Anfang der Neunziger einige Monate auf Einladung des Getty Center. Ihr Forschungsobjekt sind die Briefe einer gewissen L. aus dem Nachlass einer verstorbenen Freundin, deren Schicksal sie nachspürt. Eine Frau, die aus ä qaa.dem nationalsozialistischen Deutschland in die USA emigrierte. Sie beobachtet die amerikanische Lebensweise, taucht ein in die Vergangenheit des New Weimar unter Palmen, wie Los Angeles als deutschsprachige Emigrantenkolonie während des Zweiten Weltkriegs genannt wurde. Ein ums andere Mal wird sie über die Lage im wiedervereinigten Deutschland verhört: Wird der Virus der Menschenverachtung in den neuen, ungewissen deutschen Zuständen wiederbelebt? In der täglichen Lektüre, in Gesprächen, in Träumen stellt sich die Erzählerin einem Ereignis aus ihrer Vergangenheit, das sie in eine existentielle Krise bringt und zu einem Ringen um die Wahrhaftigkeit der eigenen Erinnerung führt.

Der Titel des Buchs soll zunächst auch darauf hindeuten, daß es hier nicht so sehr um die Ereignisse geht, sondern darum, wie sie sich in einer Person spiegeln und wie sie auf die Personen wirken. Die psychologische Nachfrage ist für mich tatsächlich das Entscheidende, das Psychogramm.

Quelle: „Wir haben dieses Land geliebt“. Gespräch mit Susanne Beyer und Volker Hage. In: Christa Wolf. Rede, daß ich dich sehe. Suhrkamp 2012, S. 196.

Herausgaben ab 2012

August (2012)

Mottenburg nennen die Patienten ihre Lungenheilstätte, in der alle an derselben Krankheit leiden, alle die "Motten" haben. Einer von ihnen ist der achtjährige August, der seine Mutter auf der Flucht aus Ostpreußen verloren hat und selbst verloren wäre, gäbe es da nicht Lilo. Lilo ist siebzehn, sie ist schön, sie wagt es, sich mit der Oberschwester anzulegen, und wenn Lilo seinen Namen ausspricht, klingt er anders als sonst. Mehr als sechzig Jahre danach sind die Erinnerungen an diese Zeit immer noch präsent, kann August darin wie in einem Bilderbuch blättern. 1976 erschien "Kindheitsmuster", Christa Wolfs großes autobiografisches Buch. 35 Jahre später rückt sie eine Figur daraus in den Mittelpunkt ihrer neuen Erzählung: Wir begegnen dem Jungen August wieder, lesen von einer schwierigen Kindheit im Zeichen von Krieg und Krankheit, aber auch von einem erfüllten Leben, in dem es etwas gegeben hat, das man wohl Glück nennen könnte.

„August“ lag vor, die Erzählung hatte sie mir zu unserem 60. Hochzeitstag geschenkt.

Quelle: Cornelia Geissler: „Ich wollte, dass es zu einem guten Ende kommt“. Interview mit Gerhard Wolf. In: Frankfurter Rundschau, 3.12.2020.

In ihren Tagebüchern geht es sehr viel um den Tod. Das geht los mit ihrer
Freundin Christa T., die an Leukämie gestorben ist. Dann Maxi Wander, Brigitte Reimann, ihre Kolleginnen sind reihenweise an Krebs gestorben. Böse Krankheiten. Innerlich hat sie sich sehr damit auseinandergesetzt. Deswegen gab es in Christas letzter Erzählung August diesen Rückgriff auf ihre Tuberkulose-Erkrankung 1946 und die Verehrung dieses Jungen in dem Sanatorium. Es ist das erste Mal, dass sie einen Mann erzählen lässt, sich so in ihn hineinversetzt, dass sie ihn erzählen lassen kann. Christa hatte die Briefe von ihm aufgehoben.

Quelle: Simon, Jana: Sei dennoch unverzagt. Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf. Berlin: Ullstein 2013, S. 242.

Christa Wolf. Rede, daß ich dich sehe. Essays , Reden, Gespräche (2012)

U4
In Essays, Reden und Gesprächen der letzten Jahre, von ihr selbst ausgewählt, wendet sich Christa Wolf den Werken von Schriftstellerkollegen und bildenden Künstlern zu. Und wie nebenbei zeichnet sie ein klares Bild der heutigen Verhältnisse.

„Christa Wolf hat der deutschen Literatur wie wenige Würde und Weltbewußtsein gegeben.“ Volker Braun

U2

Rede, dass ich dich sehe – die sokratische Aufforderung deutet an, welches Ziel Christa Wolf mit ihren Büchern verfolgt: sich erkennen zu geben, an die Wurzeln unserer Existenz vorzudringen“. In diesem Band sind es die Werke von Schriftstellerkollegen und bildenden Künstlern, denen sie sich zuwendet. Sie schreibt über Doktor Faustus und Thomas Manns Exil in Los Angeles, Schauplatz ihres Romans Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud. Sie erzählt von den Kassandra-Radierungen der Malerin Nuris Quevedo, von den Aschebildern Günther Ueckers zu Tschernobyl und vom legendären Carlfriedrich Claus, der seine Sprachblätter in einer Aktentasche mit sich herumtrug. Sie zeichnet ein liebevolles Porträt von Uwe Johnson, ist streitbar für Günter Grass und entwirft beim Nachdenken über den „blinden Fleck“ eine Mentalitätsgeschichte der deutschen und ihres Verhältnisses zur Literatur.
In den Essays, Reden und Gesprächen der letzten Jahre webt eine große Autorin unserer Zeit ein dichtes Netz des künstlerischen Dialogs, in dessen Zentrum wir ihr eigenes Werk sehen. Und wie nebenbei entsteht ein Bild unserer Verhältnisse, wie sie auch sein könnten.

Der Titel des Buchs soll zunächst auch darauf hindeuten, daß es hier nicht so sehr um die Ereignisse geht, sondern darum, wie sie sich in einer Person spiegeln und wie sie auf die Personen wirken. Die psychologische Nachfrage ist für mich tatsächlich das Entscheidende, das Psychogramm.

Quelle: „Wir haben dieses Land geliebt“. Gespräch mit Susanne Beyer und Volker Hage. In: Christa Wolf. Rede, daß ich dich sehe. Suhrkamp 2012, S. 196.

Ein Tag im neuen Jahrhundert. 2001-2011 (2013)

U2
Über fünfzig Jahre lang war dieses Datum für Christa Wolf ein besonderes: Seit 1960 beschrieb sie Jahr für Jahr ihren 27. September, fasziniert von der „Bedeutung, die ein durchschnittlicher Tag bekommt, wenn man wahrnimmt, wie viele Lebenslinien in ihm zusammenlaufen.“ Als sie dann 2003 Ein Tag im Jahr. 1960-2000 veröffentlichte, war die Resonanz überwältigend: „Eine unvergleichliche Chronik unserer Gegenwart.“ (Berliner Zeitung), „ein monumentales Tagebuch … eines ihrer wichtigsten Werke“ (Der Spiegel).
Auch im neuen Jahrhundert widmete Christa Wolf sich diesem Datum. Sie erzählt von Deutschland nach ihrem 11. September 2001, von der eigenen Arbeit, etwa an ihrem letzten großen Werk Stadt der Engel oder The Overcaot of Dr. Freud, aber auch von der kräftezehrenden Auseinandersetzung mit dem Altern.
Eine persönliche Chronik und gleichzeitig ein einzigartiges Dokument der Zeitgenossenschaft: Christa Wolf führt mit der ihr eigenen präzisen Reflexion und mutigen Offenheit die Aufzeichnungen ihres Tage-Buchs Ein Tag im Jahr fort.

U4

„Ich erwache von einer Stimme, die laut sagt: ‚Ein Riß im Gewebe der Zeit.‘“

Christa Wolf führt die Aufzeichnungen ihres eindrucksvollen Tage-Buchs Ein Tag im Jahr fort und geht dem Zusammenspiel von Privatem und zeitgeschichtlichen Ereignissen auf den Grund.

Es ist ein ganz gewöhnliches Datum, doch für Christa Wolf war es über fünfzig Jahre lang ein besonderes: Seit 1960 beschrieb sie Jahr für Jahr ihren 27. September, fasziniert von der "Bedeutung, die ein durchschnittlicher Tag bekommt, wenn man wahrnimmt, wie viele Lebenslinien in ihm zusammenlaufen". Auch im neuen Jahrhundert setzte Christa Wolf diese Arbeit fort und ging dem Zusammenspiel von Privatem, Subjektivem und großen zeitgeschichtlichen Ereignissen auf den Grund. Sie erzählt von Deutschland nach dem 11. September 2001, von der eigenen Arbeit etwa an ihrem letzten großen Werk "Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud", aber auch von der kräftezehrenden Auseinandersetzung mit dem Altern.

Moskauer Tagebücher. Wer wir sind und wer wir waren (2014)

U2

Zehnmal besucht Christa Wolf die Sowjetunion, zum ersten Mal 1957 als junge Frau, zuletzt im Oktober 1989. In ihren bisher unveröffentlichten Tagebuchnotizen erleben wir sie als neugierige Touristin, als scharfe Beobachterin der Verhältnisse und als zugewandte Gesprächspartnerin der russischen Freunde.

„Als habe man dem Land die Seele ausgezogen. Die Russen auf der Suche nach ihrer Seele – Westler würden sagen: nach ihrer Identität. Dies ist der tiefere historische Prozeß hinter Perestroika. Wenn es wieder nur bei Pragmatismus bleibt, wird es nichts.“
Christa Wolf, 1987

„Alles, worüber Sie schreiben, habe ich erlebt, nur hätte ich es so erschütternd nicht ausdrücken können.“
Efim Etkind in einem Brief an Christa Wolf

U4

"Moskau! … Das Leben, scheint mir, ist hier lebendiger, unmittelbarer als bei uns. … Ich könnte hier einige Zeit leben und würde mich nach und nach heimisch fühlen." So beginnen Christa Wolfs Aufzeichnungen über eine Stadt, die sie 1957 zum ersten Mal besucht. Im Oktober 1989, mitten in den Wochen des Umbruchs, tritt sie ihre letzte Reise in die Sowjetunion an. Insgesamt zehnmal ist sie dort, von den Sicherheitsdiensten der UdSSR wie der DDR beobachtet.
Sie folgt als Touristin zusammen mit Dostojewskis Enkel den Spuren des großen Russen in Sankt Petersburg. Fährt mit Max Frisch auf der Wolga nach Gorki. Trifft am Schwarzen Meer eine schlagfertige Moskauer Rechtsanwältin und steht in Komarowo am Grab Anna Achmatowas. Vor allem aber ist sie eine scharfe Beobachterin der sozialen und politischen Verhältnisse.

In den Tagebuchnotizen entsteht ein facettenreiches Bild des Großen Bruders, eines Riesenreichs im Wandel, bis hin zu den Tagen des dramatischen Endes, und gleichzeitig erleben wir Christa Wolf im persönlichen Dialog mit sich selbst und den russischen Freunden wie Lew Kopelew. Ergänzt werden ihre Aufzeichnungen durch Begleittexte ihres Mannes Gerhard Wolf sowie durch Briefe, zeitgenössische Fotos und Dokumente.

Zehnmal besucht Christa Wolf die Sowjetunion, zum ersten Mal 1957 als junge Frau, zuletzt im Oktober 1989. Sie fährt mit Max Frisch auf der Wolga nach Gorki, trifft in Gagra am Schwarzen Meer eine schlagfertige Moskauer Rechtsanwältin und steht in Komarowo am Grab Anna Achmatowas. Vor allem aber ist sie eine scharfe Beobachterin der sozialen und politischen Verhältnisse, die die Freundschaft verfolgter Dissidenten wie Lew Kopelew gewinnt.

In den Tagebuchnotizen entsteht ein facettenreiches Bild des Riesenreichs im Wandel, bis hin zu den Tagen des dramatischen Endes, und gleichzeitig erleben wir Christa Wolf im persönlichen Dialog mit sich selbst und den russischen Freunden. Ergänzt werden ihre Aufzeichnungen durch Begleittexte ihres Mannes Gerhard Wolf sowie durch Briefe, zeitgenössische Fotos und Dokumente.

Der Titel des Buchs soll zunächst auch darauf hindeuten, daß es hier nicht so sehr um die Ereignisse geht, sondern darum, wie sie sich in einer Person spiegeln und wie sie auf die Personen wirken. Die psychologische Nachfrage ist für mich tatsächlich das Entscheidende, das Psychogramm.

Quelle: „Wir haben dieses Land geliebt“. Gespräch mit Susanne Beyer und Volker Hage. In: Christa Wolf. Rede, daß ich dich sehe. Suhrkamp 2012, S. 196.

Nachruf auf Lebende. Die Flucht (2014)

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Für die fünfzehnjährige Ich-Erzählerin ist ihre Mutter Charlotte der Mittelpunkt der Familie, geliebt, alles beherrschend und geradeheraus. Das Offensichtliche aber wird auch von Charlotte totgeschwiegen: dass die Nachrichten von der Front beunruhigen und die Flüchtlingstrecks aus dem Osten in immer kürzeren Abständen durch die Stadt ziehen. Bis zu dem Januarmorgen 1945, an dem plötzlich vollgestopfte Bettensäcke im Flur bereitstehen, vom Führerbild an der Wand nur noch ein heller Fleck zu sehen ist und die Mutter ihren Silberfuchs mit einer endgültigen Geste, die ihre Tochter nicht mehr vergessen wird, in den Schrank zurücklegt. Mitreißend, anrührend und mit liebevoller Ironie erzählt Christa Wolf von den inneren Verflechtungen einer Familie, von einer Fünfzehnjährigen, die erwachsen wird, vom Trauma der Flucht. 1971 entstanden, ist diese Erzählung der Auftakt zum späteren, weit ausholenden Kindheitsmuster, dem autobiographischen Meisterwerk, das bis heute ein Weltecho hat.

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Erstmals veröffentlicht: Mitreißend und anrührend erzählt Christa Wolf von einer Familie auf der Flucht, von einer Fünfzehnjährigen, die erwachsen wird.

„Die Angst hört sofort auf, wenn der Verlust eingetreten ist, vor dem man gezittert hat.“

Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten. Christa Wolf - Briefe 1952-2011 (2016)

»Post, Post, Post«. Dieser Stoßseufzer, notiert im Kalender unter dem Datum vom Sonntag, dem 4. März 1990, kommt nicht von ungefähr: Christa Wolf war eine ungeheuer produktive Korrespondentin. Ihre Briefe an Verwandte und Freunde, Kollegen, Lektoren, Politiker, Journalisten geben faszinierende Einblicke in ihre Gedankenwelt, ihre Schreibwerkstatt, ihr gesellschaftliches Engagement.
 
Ob sie an Günter Grass oder Max Frisch schreibt, von Joachim Gauck Einsicht in ihre Stasi-Akte fordert oder sich mit Freundinnen wie Sarah Kirsch und Maxie Wander austauscht, wir sind Zeuge von Freundschaften und Zerwürfnissen, Auseinandersetzungen und Bestätigung, von der Selbstfindung einer der wichtigsten Autorinnen des 20. Jahrhunderts. Nicht zuletzt beeindruckt ihr Umgang mit der Flut von Leserbriefen, die sie mit zunehmendem schriftstellerischen Erfolg erreicht und auf die sie geduldig und kundig – und manchmal auch mit der gebotenen Direktheit – eingeht.

Sehnsucht nach Menschlichkeit. Lew Kopelew / Christa Wolf. Der Briefwechsel, 1969-1997 (2017)

"Wir stritten uns mit K. übrigens etwas über die Mauer" hält Christa Wolf fest, als sie im Juli 1965 um Mitternacht mit Lew Kopelew und ihrem Mann Gerhard an der Grenze entlang nach Hause fährt. Gerade hatte sie den russischen Germanisten beim Abendessen in Ost-Berlin kennengelernt. Trotz der Meinungsverschiedenheit erhält Christa Wolf 1969 den ersten Brief von Kopelew. In Moskau gilt er seit Ende der 1960er Jahre als "das schwärzeste Schaf", darf nicht publizieren, nicht auftreten. Fernab der Machtzentrale aber kann er Vorlesungen halten und "verdolmetscht" die neuesten Texte von Christa Wolf. Die jungen Leute in den Sowjetrepubliken sind, wie Kopelew selbst, begeistert. Sie schätzt ihn bald als einen ihrer ersten kritischen Leser, nennt ihn ihren "Ermutiger". Die Briefe der beiden "Seelenverwandten" drehen sich in der Hauptsache um Literatur - um gelesene Bücher und eigene Texte im Arbeitsprozess, um verschenkte Bände und Weisheiten der Klassiker.

Nun schauen mich immer mindestens vier Augen an. Briefwechsel 1971-1998. Carlfriedrich Claus, Christa und Gerhard Wolf. (2018)

Für Christa und Gerhard Wolf war der freundschaftliche Umgang mit Malern, Bildhauern und Grafikern nicht weniger
anregend und intensiv als der mit Dichterkollegen und Autoren.

Das 1995 bei Gerhard Wolf Janus press verlegte Buch "Unsere Freunde, die Maler" legt davon anschaulich Zeugnis ab. Versammelt es doch Bildwerke zahlreicher bekannter Künstler und stellt ihnen Betrachtungen, Briefe und Reflexionen zur Seite. Ein Jahr vorher, 1994, gewann Gerhard Wolf 19 von ihnen für die Mitarbeit an dem Mappenwerk "Ein Blatt für C. W.", eine Gabe für die von allen geschätzte Autorin zu ihrem 65. Geburtstag. In beiden Editionen – dem Buch wie der Grafikmappe – ist Carlfriedrich Claus vertreten. Aber in beiden nimmt er eine Sonderstellung ein.

"Wir haben uns wirklich an allerhand gewöhnt". Der Briefwechsel Sarah Kirsch, Christa Wolf (2019)

Herausgegeben von Sabine Wolf unter Mitarbeit von Heiner Wolf.

"Liebe Christa schön daß Du noch hier geblieben bist auf dem beknackten Planeten!", schreibt Sarah Kirsch im Herbst 1988 an ihre Freundin, die eben eine lebensgefährliche Krankheit überwunden hat. Ein Jahrzehnt zuvor konstatiert Christa Wolf nach einem Treffen in West-Berlin, kurz nach Kirschs Ausreise aus der DDR: "Ich bin froh, daß ich bei Dir war und jetzt ganz ruhig an Dich denken kann."

Zwei Autorinnen von internationalem Rang sind hier fast drei Jahrzehnte lang, von 1962 bis 1990, miteinander im Austausch: über das Schreiben, den Literaturbetrieb im Osten wie im Westen, über die Männer, die Kinder, die Arbeit im Garten und die politischen Systeme, in denen sie leben. Letztere sind es wohl, die diese Freundschaft an ein Ende bringen, nach vielen Jahren des vertrauensvollen Miteinanders. Streng und verspielt, heiter und verzweifelt, schnoddrig und ehrlich - Sarah Kirsch und Christa Wolf beim Schreiben und Leben über die Schulter zu schauen ist ein Geschenk.

Umbrüche und Wendezeiten (2019)

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„Mir wird immer die Erinnerung daran bleiben, dass wir in diesem Herbst 1989 dabei gewesen sind, wie hunderttausende Menschen plötzlich im Verlauf weniger Tage und Wochen zu selbstbestimmten Bürgern reiften und eine couragierte Haltung gegenüber den herrschenden Verhältnissen an den Tag legten, die man nicht für möglich gehalten hätte.“

Innenseite

Im Jahr 2008 führte Thomas Grimm ein Interview mit Christa Wolf und ihrem Mann Gerhard Wolf. Christa Wolf erinnert sich in dem Gespräch an den Alltag in der DDR, die Überwachung durch die Stasi und die friedliche Revolution von 1989, zu deren wichtigsten Stimmen sie gehörte. Sie spricht über ihre vergebliche Hoffnung auf einen wirklich demokratischen Sozialismus in der DDR, über die Wiedervereinigung und ihre Eindrücke des sich verändernden Kunst- und Kulturbetriebs. Ihre gesellschaftlichen Diagnosen sind ihrer Zeit weit voraus, ob es den Wegzug junger Leute aus Ostdeutschland, die Ausbreitung rechter Gesinnungen oder die drohenden Folgen des Klimawandels betrifft. Christa Wolf zeigt sich als scharfsinnige Analytikerin der Wendezeit und couragierte Zeitgenossin und gibt ganz persönliche Einblicke in ihr Leben.

Herausgegeben von Thomas Grimm unter Mitarbeit von Gerhard Wolf. "Wir staunen, was wir offenbar schon lange gedacht haben und was wir uns jetzt laut zurufen: Demokratie jetzt oder nie!" Als Christa Wolf am 4. November 1989 diese Worte den versammelten Menschen am Alexanderplatz zuruft, steht die weltberühmte Schriftstellerin im Zentrum politischer Umbrüche. Sogar das Staatspräsidentenamt wird ihr angeboten. Wie hat die engagierte Autorin die DDR, den Mauerfall und die Wiedervereinigung erlebt

Herzenssache. Meine Begegnungen mit Literatur- und Malerfreunden. Hrsg.: Gerhard Wolf (2020)

„Ein Genie der Gemeinsamkeit“ Volker Braun.

„Wer ist Gerhard Wolf? Der wagemutige Verleger, eindringliche Essayist, exzellente Lektor, kunstversessene Herausgeber? Der Meisterkoch der deutschen Gegenwartsliteratur? Der Mann einer berühmten Frau, der Schriftstellerin Christa Wolf? Sollte all dies in einer einzigen Person vereinigt sein?“ Friedrich Dieckmann.

Wenn dieser Gerhard Wolf seinen Passionen folgt und über Begegnungen mit unvergesslichen Literatur- und Malerfreunden schreibt, entstehen lebendige Künstlerporträts, die zum Lesen und Entdecken verführen: Irmtraud Morgner, Walter Jens, Günter de Bruyn, otl aicher, Carola Stern, Heinz Zöger, Stephan Hermlin, Tadeusz Różewicz, Günter Grass, Bert Papenfuß, Stefan Heym, Andreas Reimann, Johannes Bobrowski, Carlfriedrich Claus, Christa Cremer, Volker Braun, Gino Hahnemann, Jan Faktor, Louis Fürnberg, Nuria Quevedo, Maria Sommer, Barbara Beisinghoff, Róža Domašcyna, Angela Hampel, Franci Faktorová, Brigitte Reimann u. a.

„Ich kann nur über mich schreiben, indem ich über andere schreibe.“ Gerhard Wolf

Hans Stoffels: "Die vielen ungelebten Leben". Briefwechsel mit Christa Wolf 1971-74. (2020)

Im März 1971 schrieb ein westdeutscher Medizinstudent einen Brief an Christa Wolf. Ihr Buch »Nachdenken über Christa T.« hat ihn »durchgerüttelt und aufgewühlt«, nun erhofft er sich von der berühmten ostdeutschen Autorin eine Antwort auf die Frage, wie man den »eisernen Vorhang zwischen Literatur und Wissenschaft« durchbrechen könne. Daraus entwickelte sich ein drei Jahrzehnte andauerndes Gespräch über das Verhältnis von Krankheit und Gesundheit, über persönliche Verantwortung, gesellschaftliche Zwänge und die "Verkrustungen anstelle der echten Lebensintensität".

Matthias Weichelt spricht mit Hans Stoffels über dessen in der Zeitschrift »Sinn und Form« erstmals veröffentlichten Austausch mit Christa Wolf.

Link zur Aufzeichnung (Youtube).

Drei rote Bücher in einem grauen Schuber

Sämtliche Essays und Reden. Drei Bände. Hg. von Sonja Hilzinger. Berlin 2021.

Band 1: Lesen und Schreiben (1961-1980) // Band 2: Wider den Schlaf der Vernunft (1981-1990) // Band 3: Nachdenken über den blinden Fleck (1991-2010)

1973 erklärte Christa Wolf, dass für sie kein grundsätzlicher Unterschied bestehe zwischen ihrer Prosa und ihrer Essayistik, denn deren gemeinsame Wurzel sei »Erfahrung, die zu bewältigen ist: Erfahrung mit dem ›Leben‹, mit mir selbst, mit dem Schreiben, das ein wichtiger Teil meines Lebens ist, mit anderer Literatur und Kunst. Prosa und Essay sind unterschiedliche Instrumente, um unterschiedlichem Material beizukommen«.

Das sind auch die Themen ihrer Essays und Reden, die in der chronologischen Reihenfolge ihres Entstehens in dieser Ausgabe versammelt sind. Christa Wolf bezieht als kritische Zeitgenossin Position, setzt sich mit poetologischen Reflexionen über ihr Selbstverständnis als Autorin auseinander und nähert sich über wesentliche Berührungspunkte Gefährt:innen und Kolleg:innen an.